Die Zeit trifft die Uhr

Uhr: "Ich habe gehört: Du hast dich mit dem Uhrmacher getroffen."
Zeit: "Ja, er hat mich neulich besucht."
Uhr: "Und?"
Zeit: "Was und?"
Uhr: "Hat er dir von mir erzählt?"
Zeit: "Nein!"
Uhr: "Er hat dir nichts von meinen Depressionen erzählt?"
Zeit: "Warum sollte er?"
Uhr: "Kannst du mir vielleicht helfen?"
Zeit: "Ich habe schon dem Uhrmacher gesagt, dass ich mich mit Uhrzeiten überhaupt nicht auskenne und auch nichts von Uhren verstehe."
Uhr: "Das ist doch nur von Vorteil. Also, darf ich mit dir über mein Problem sprechen?"
Zeit: "Wir können es versuchen."
Uhr: "Vor kurzem klagte mir eine goldstrotzende Armbanduhr ihr Leid. Ihr protziger Besitzer hätte sie sich auch nur gekauft, um sein Image auszustellen. Aber im Grunde könne sie anzeigen, was sie wolle, er achte ohnehin nicht auf sie. Als Zeitgeberin ließe er sie völlig links liegen!"
Zeit: "Und was bedrückt dich da?"
Uhr: "Es geht allen Uhren so. Sobald sie ein bisschen was hermachen, scheinen sie keine Rolle mehr zu spielen. Die Leute, die sie tragen, holen sich die Zeitangabe von ihrer Sekretärin."
Zeit: "Da irrst du. Sie schauen sogar sehr oft auf ihre teure Uhr!"
Uhr: "Ja, aber sie gucken nicht richtig hin. Die können auf ihre Uhr gucken und anschließend jemanden fragen, wie viel Uhr es ist!"
Zeit: "Aber deswegen brauchst du doch nicht niedergeschlagen zu sein!"
Uhr: "Ich fühle mich völlig überflüssig. Ich langweile mich angesichts der Wiederholungen des immer Gleichen, die ich anzubieten habe, unendlich!"
Zeit: "Du hast doch viele, mit denen du dich unterhalten kannst!"
Uhr: "Da irrst du völlig. Frag' doch nur einmal eine der vielen Stunden, wie es ihr geht! Jede Stunde kennt nur eine Antwort: 'Nach sechzig Minuten bin ich weg!' Überhaupt, alle Zeiteinheiten, mit denen ich zu tun habe, befinden sich ständig auf der Flucht. Ich kann mich überhaupt nicht durchsetzen. Es gibt überhaupt keine Angriffsflächen. Sobald sich eine Stunde vollkommen entwickelt hat, löst sie sich auch in nichts auf! Alle Uhren zeigen ständig einzig und allein Schwund an. Unser Sekundenzeiger demonstriert das ja geradezu. Tick, tick, tick, weg, bevor er überhaupt eine Sekunde berührt hat."
Zeit: "Liebe Uhr, wenn du deinen Beruf so sehr hasst, dann solltest du ihn aufgeben!"
Uhr: "Und wer misst dann Zeit?"
Zeit: "Ihr braucht mich gar nicht zu messen!"
Uhr: "Du meinst wirklich, wir können alle stehen bleiben?"
Zeit: "Das werdet ihr nie schaffen. Klar, einige von euch können geschickt herunterfallen oder abhauen, indem sie sich klauen lassen. Die meisten Uhren werden bleiben müssen, um der Uhrzeit zur Verfügung zu stehen."
Uhr: "Aber die will ja von uns immer nur das eine: Kommen und gleich wieder gehen! Und dann fragen uns manche Uhrenbesitzer auch zu allem Überfluss, wo denn die Zeit geblieben sei. Was sollen wir da antworten? Wir wissen ja auch nicht, wohin die Zeit flieht!"
Zeit: "Laufe doch einfach mit! Als Uhr musst du Spitzensportlerin sein oder noch besser Marathonläuferin. Je gleichmäßiger du deine Schritte setzt, um so länger kannst du durchhalten. Also, bleibe nicht sitzen, um zu jammern, sondern laufe, um zu erfahren, wohin die Zeit entschwindet. Dann hörst du auf, dich zu langweilen, und die Gleichmäßigkeit deiner Bewegung wird für dich zum Abenteuer!"
wfschmid - 30. Juni, 06:59
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