Interview zum Unterricht (9)

IL: Natürliches Lernen beginnt bereits vorgeburtlich, sobald das Gehirn sich organisieren kann. Kulturelles Lernen fängt dagegen mit dem Erwerb der Muttersprache an, insbesondere mit Lesen und Schreiben. Was bedeutet das?
IR: Indem das Kind Worte lernt, erfährt es, dass Gegenstände nicht unmittelbar gegenwärtig sein müssen, um über sie sprechen zu können. Es erfährt, dass Worte Gegenstände vertreten können. Im Wort Namen steckt das Nennen als Tun. Ich nenne etwas bei seinem Namen und ich vergegenwärtige es ineins damit. Das ist für das Kind durchaus keine neue Erfahrung. Bevor es in die Schule kommt, weiss es schon längst, dass Dinge Namen haben. Es sagt "Apfel", wenn es einen Apfel essen will, auch gerade dann, wenn es diesen Apfel nicht wahrnimmt sondern erinnert, weil es Appetit darauf hat. Das, was für das Kind neu ist, ist die Möglichkeit, Namen auch schriftlich festhalten bzw. schreiben zu können. Es ist die Erfahrung, dass Dinge vergegenwärtigt werden können, ohne eigens darüber sprechen zu müssen. Man kann über diese Dinge lesen.
IL: Ist es dann eigentlich so ganz zutreffend, im Zusammenhang mit Lesen und Schreiben bereits von einem weiteren Lernprozess zu sprechen?
IR: Ja schon, wenn man den Unterschied zum bisherigen Lernen sehr klar hervorhebt. Und dieser Unterschied besteht in der neuen Erfahrung, sich Dinge vorstellen zu können, ohne sie sehen oder darüber sprechen zu müssen. Das Kind erfährt, dass es Geschehen schriftlich festhalten und dann wieder vergegenwärtigen kann. Aber es geschieht ja in der Schule gleichzeitig noch etwas Anderes. Mit dem Erwerb der Schriftsprache geht gleichzeitig das Aneignen des Zählens und Rechnens einher. Und hier tritt die Veränderung der Qualität des Lernens noch sehr viel deutlicher hervor.
wfschmid - 16. September, 17:04
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