Die Geschichtenerzählerin
Die Kehre des Denken oder die Wende der Philosophie geschieht vor allem als Abwendung von der Logik und Hinwendung zum Mythos, und zwar als Spiel der Intuitionen. Nach mehr als drei Jahrtausenden wird die Intelligenz durch die Begabung abgelöst. Nicht mehr die akademische Wissenschaft zählt, sondern die intuitive Kunst erzählt. Mythos und Logos werden zu gleichberechtigten Erklärungsmethoden der Welt. Der Mythos versucht, das Werden oder die Natur durch Geschichten, Sagen oder heilige Schriften zu erklären. In frühen Zeiten während der Dämmerung des Geistes werden Götter zur Ursache aller Erscheinungen.
Allerdings nennt bereits Platon solches Treiben eine Schattenwelt und leitet eine Abwendung vom Mythos ein, die dann durch seinen Schüler Aristoteles als Hinwendung zum Logos vollzogen wird. Sokrates und sein Schüler versuchen sich als erste in philosophischen Definitionen. So entstehen aus der Vielzahl mystischer Namen einheitliche Begriffe. Die mythologischen Fragen nach den Gründen und Zwecken göttlichen Wirkens werden über die philosophischen Fragen nach den Eigenschaften des Wesentlichen zu den logischen Fragen nach den Ursachen und Gründen der Natur.
Logik betrachtet die Welt als Ordnung von letztlich mehr oder weniger berechenbaren Systemen, während der Mythos die Welt als mehr oder weniger zufälliges Zusammenspiel von Energien sieht. Die Dialektik zwischen Mythos und Logos ließe sich durchaus kybernetisch beschreiben, wenn zugleich auch eine entsprechende Methode des Denkens bereitgestellt werden könnte. Es gilt allerdings zu bedenken, dass derartige Überlegungen unter tradiertem logischen Aspekt angestellt werden. Unter mythischem Aspekt allerdings existieren nicht einmal Versuche.
Mythische Vorstellungen entspringen allesamt der Intuition. Im Gegensatz zum herkömmlichen Denken in Begriffen ist die Intuition eine Geschichtenerzählerin, also ein Denken in Bildern, die spontan entstehen und zugleich auch bewusst und erzählt werden. Die Intuition liebt einen Rahmen, der dem Zufall das Wort lässt. Jedoch ergeben sich von Anfang an Schwierigkeiten daraus, dass die Intuition nicht so leicht zu haben ist wie das gewöhnliche Denken.
Jemandem nahezubringen, was Mystik ist, erscheint als kaum zu bewältigende Aufgabe, denn die westliche Lebenshaltung geht in Richtung Tätigkeit, Selbstverwirklichung, wirtschaftlicher Erfolg.
Das ganze Leben ist in seiner Tendenz wesentlich auf Diesseitigkeit ausgerichtet. Intuition aber ist nicht planbar. Die einzig angemessene Vorbereitung auf das Empfangen der Intuition ist - so der Mystiker Meister Eckhardt (1260 - 1328) - das vollkommene Loslassen von allen Lebensgewohnheiten und die Ausrichtung nach innen, um das Diesseitige loswerden zu können.
Auf diesem Weg nach innen existieren Abzweigungen, die durchaus immer wieder gefährlich werden können. Aber mögliche Irrwege lassen sich denkbar leicht daran erkennen, dass sie unversehens doch wieder durch logisch ausgerichtete Fragen markiert werden. Spätestens dann, wenn man bemerkt, dass das Denken durch Fragen geregelt und nicht mehr (auf)gespürt wird, lässt sich feststellen, dass man wieder auf einen Abweg geraten ist. Man sollte sich also ständig vergegenwärtigen, dass das mythische Denken gefühlt oder aufgespürt und nicht etwa konstruiert wird. Wenn einem die Fantasie und damit das Gespür für sich selbst offenbarende Bilder verloren geht, dann bewegt man sich bereits auf einem Irrweg. Das von Mystikern gemeinte Loslassen der Vernunft auf dem Weg nach innen in die Tiefen eigenen Seins und Werdens verhilft allererst zur Wahrnehmung intuitiver Bilder.
Intuition erscheint und zeigt sich immer durch eine Geschichte, die sie erzählen will. Sie fordert also die Bereitschaft, sich erst einmal auf den Weg, von dem sie erzählt, einzulassen. Also warten und hören wir jene Geschichte, welche die Intuition erzählen wird.
wfschmid - 4. April, 05:25
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