Quelle eines Ursprungs
In der gefrorenen Hoffnung der inneren Stille scheint auch die schöpferischste Quelle eines rettenden Auswegs zu erstarren. Der Alte, von der Last seines Lebens in sich zusammengesunken, kauert vor dem Nichts unverwirklichter Möglichkeiten. Es ist die Seinsstelle, die das Leben für ihn vorgesehen hat. Dem Alten, der vermeintlich vor dem Nichts steht, fällt plötzlich ein bläulicher Lichtschein auf, der hinter dem Horizont seines Daseins hervorscheint. In den Höhen möglicher Möglichkeiten verdichten sich wirkliche Möglichkeiten zu einer Vision von einer Zukunft wirklicher Möglichkeiten gleich einer Sonne der altphilosophischen Ideenwelt.
Der Alte erhebt sich, um wieder Blickkontakt mit der Wirklichkeit aufzunehmen. Er spürt seine Kräfte wieder und zweifelt jetzt, ob ihn nicht nur dunkle Bilder überwältigt haben. „Du bist so alt wie du dich fühlst!“ hört er eine Stimme aus dem Hintergrund des Augenblicks. „Das ist wahr!“ murmelt er. „Dein Körper glaubt das und versucht, sich in dieser Wahrheit einzurichten!“ fügt die Stimme flüsternd hinzu. Jetzt wird ihm klar, dass er der Gefahr entkommt, sich gehen zu lassen.
Jetzt erwacht er, und der Traum verflüchtigt sich. Er sinnt dem Geträumten noch nach während er sich auf den Tag vorbereitet. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, denn die Angelus-Glocke ruft bereits zu den Vigilien, der ersten der täglichen Gebetszeiten.
Es ist 5 Uhr morgens, als er die Klosterkirche betritt und sich zum kunstvoll geschnitzten Chorgestühl der Mönche begibt. Das geschieht nicht ohne Furcht, denn das gestrige Geschehen ist ihm noch sehr gegenwärtig. Wenn ihm das heute erneut widerfährt, wird er sich wohl an seinen alten Novizenmeister wenden. Aber während des Chorgebets hüllt ihn erneut dieses seltsame Licht ein. Das augenblickliche Geschehen entzieht sich ihm. Er sieht sich selbst mit den anderen in die Gebete und Gesänge der Vigilien vertieft. Nichts, das auffällig wäre. Und wieder nähert sich ihm diese merkwürdig jugendliche, bläulich verhüllte Lichtsgestalt, die ihn in seine Erinnerungen entführt. Er findet sich in der Trostlosigkeit seiner frühen Jugend wieder. Er geht den kleinen, von Trauerweiden fast verborgenen Fluss entlang. Das bescheidene Flüsschen, das nichts mehr von seiner geheimnisvollen Quelle verrät und unter falschem Namen seiner Mündung zufließt, beruhigt ihn und lädt ihn in seine Gedankenwelt ein. Dem in seinen Erinnerungen versunkenen Novizen kommt der Gedanke, dass er doch als Junge eigentlich nie an diesem Flüsschen entlang ging. Aber eine tiefere Erinnerung widerlegt das und zeigt ihn auf seinem uralten Damenfahrrad, wenn er gerade keine Lust zu gehen hat. Und ihm fällt ein, dass der Weg zum Schlachthof dort verläuft. Einmal pro Woche muss er dort das Fleisch für den Führhund des Vaters abholen. Er wischt diese Erinnerung beiseite und fragt sich, wer oder was ihn die Aach, alias Donau, entlang führt. Was soll ihm dieses hervorgeholte Bild denn Wichtiges zeigen? Vielleicht ist dort ein vergessener Gedanke wieder zu entdecken, der aus irgendwelchen Gründen weiterhilft.
Jetzt tritt die Lichtgestalt aus ihrer Verschleierung hervor und erkärt ihm, dass sie Mnemosyne und die Göttin der Erinnerung ist.
„Was willst du als heidnische Göttin inmitten eines christlichen Geschehens?“
„In der Welt jenseits eines in sich verfangenen und gefangenen Denkens haben alle wichtigen Geschehen Namen. Und die Namen von Gottheiten schenken dir die Möglichkeiten zu glauben! Dein Gott ist ja auch nur da, damit du glauben kannst!“
„Und was willst Du, woran ich glauben soll?“
„Meine Schwester Lethe und ich bestimmen, was als Sosein im Dasein vergessen und was erinnert wird. Wie nach Lethe, so benennt der Mythos auch nach mir einen Fluss, nämlich Mnemosyne, den Fluss des Erinnerns. Wer aus diesem Strom des Unterbewussten trinkt, wird sich an alles erinnern und mit Weisheit ausgezeichnet. Mit „alles erinnern“ meine ich selbstverständlich das „Wiedererinnern“ dessen, was in der Natur als existentiell Hervorscheinendes für das Leben zu entdecken und zu lernen ist. Nehme nur eimal den Regen wahr und betrachte, welche Bewegungen das Wasser macht: es fließt zusammen, um sich zu sammeln, es fließt auseinander, um sich zu verteilen. Auf kaltem Boden verdichtet sich das Wasser zu Eis und es löst sich wieder auf und taut, wenn sich der Boden erwärmt. Das Wasser zeigt Dir also die vier Grundbewegungen der Natur: hinzufügen oder wegnehmen und verdichten oder lösen. Und wenn du deine innere Natur betrachtest, kannst du diese Bewegungen auch vor dem inneren Auge sehen. Wie Du weißt, brauchst du nur nach innen schauen und dich umsehen. So entdeckst du innen, was du auch außen wieder entdecken kannst...“
„Was mir erscheint, das kann ich nicht weitersagen. Niemand wird mir das glauben, was ich denkend schaue, weil ich es weder anderen zeigen noch ihnen beweisen kann!“
„Hälst Du das selbst denn für wahr?“
„Ich kann das nicht recht glauben, weil ich nichts davon spüre!“
Intuitiv erfasst der Novize, dass er einen Fehler macht, während sich die Lichtgestalt zunehmend schneller auflöst und der Novize ins Chorgebet zurückkehrt.
Die Glocke läutet zum Ende der Vigil und er erwacht aus seinem Traum einer möglichen Wirklichkeit!
wfschmid - 24. Mai, 05:20
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