Unilogo

3
Jun
2011

Nichts als 'Gemeine'


Im zweiten Vortrag der Basler Vorträge über die Zukunft unserer Bildungsanstalten sagt Friedrich Nietzsche am 6. Februar 1872(1):

„Man mache sich nur einmal mit der pädagogischen Literatur dieser Gegenwart vertraut; an dem ist nichts mehr zu verderben, der bei diesem Studium nicht über die allerhöchste Geistesarmut und über einen wahrhaft täppischen Zirkeltanz erschrickt. Hier muss unsere Philosophie nicht mit dem Erstaunen, sondern mit dem Erschrecken beginnen: wer es zu ihm nicht zu bringen vermag, ist gebeten, von den pädagogischen Dingen seine Hände zu lassen.“

„... Dass es aber trotzdem nirgends zur vollen Ehrlichkeit kommt, hat seine traurige Ursache in der pädagogischen Geistesarmut unserer Zeit; es fehlt gerade hier an wirklich erfinderischen Begabungen, es fehlen hier die wahrhaft praktischen Menschen, das heißt diejenigen, welche gute und neue Einfälle haben und welche wissen, dass die rechte Genialität und die rechte Praxis sich notwendig im gleichen Individuum begegnen müssen: während den nüchternen Praktikern es gerade an Einfällen und deshalb wieder an der rechten Praxis fehlt.“(2)

„Und das Folgende aus einer Philosophievorlesung lese ich Ihnen auch noch vor:

Hört man sich an Universitäten um und erkundigt sich an verschiedenen Fakultäten, dann findet man Nietzsches Beurteilung durchaus bestätigt. Interessant ist nun aber letztlich nicht das Ansehen der Pädagogik, sondern vielmehr die Frage, wie so etwas entstehen kann. Man wird überrascht sein, dass nur noch ein zu hoher Medien-, insbesondere ein zu hoher Fernsehkonsum Ähnlichkeit mit dem pädagogischen Drahtverhau aufweist.
Ein vergleichbares Phänomen zur pädagogisch bedingten Wahrnehmungsfeldverengung und Vorstellungsverfälschung ist der sogenannte Tunnelblick. Der Tunnelblick verdankt seine Entdeckung der Feststellung, dass Grundschulkinder, die zu viel fernsehen, sich nicht mehr in der Lage zeigen, rückwärts zu gehen, weil sie die Seitenorientierung aufgrund der Verengung ihres Gesichtsfeldes verloren haben.
Zufolge ihres viel zu hohen Fernsehkonsums hat das Gehirn gelernt, dass die wirklich wichtigen Ereignisse in der Mitte des Gesichtsfeldes stattfinden, eben dort, wo in der Regel das Fernsehgerät steht. Diese Kinder sind also gleichsam dazu konditioniert worden, nur noch auf das zu achten, was im Zentrum ihres Gesichtsfeldes geschieht. (3)

Die Infektion durch sprachliche Übertragung mittels infizierter gesprochener oder schriftlich formulierter Texte zeigt eine durchaus vergleichbare Wirkung. Das mit diesem Virus infizierte Bewusstsein verliert gewissermaßen den Überblick und greift fast nur noch auf vorhandene Reiz-Reaktions-Muster zurück. Es gilt aufgrund des Selbst-Verlustes nicht mehr das, was selbst formuliert wird, sondern fast nur noch fremd Formuliertes. Die Sucht zu zitieren und die Abneigung bzw. das Unvermögen zu jeder Form von Reflexion zeugt von dieser Abhängigkeit.
Die einfachen Schemata vorformulierter Meinungen ermöglichen keine Bewusstseinsprozesse, die über das bloße Identifizieren und schematische Interpretieren hinausgehen.
Sorgfältiges Wahrnehmen, kritisches Betrachten, trennscharfes Beobachten und anwendungsbezogenes Begreifen fallen dann zwangsläufig aus. Dieser Ausfall geht mit dem Verlust von Neugier, von Wissensdrang, von Entdeckungsdrang und Schaffensfreude einher.“

Hekate blickt Aesthe von der Seite an, um vielleicht an ihrem Minenspiel erraten zu können, wie sie über das Gehörte denkt.

Während Aesthe ihren Blick auf den starken Feierabendverkehr richtet, sagt sie „Jetzt brauch’ ich erst einmal eine Zigarette!“

Als sie sich endlich auf dem Zubringer zur A1 nach Köln befinden, sagt Lethe mit einem kurzen Blick zu Hekate:

„Das geht alles von einem Ideal aus, das sich wohl niemals erreichen lässt. Ich frage mich, ob der Mangel nicht vielmehr in der menschlichen Natur zu suchen ist statt in einer pädagogischen Vorgehensweise! Was mich allerdings stutzig macht, ist, was über die Ausbildung gesagt wird. Das hört sich für mich eher nach Clan als nach Wissenschaft an. Jedenfalls werde ich mich da kundig machen!“

„Aesthe, selbst wenn an dem ‚was dran wäre, was da behauptet wird, sind wir nicht die richtigen Leute, um dagegen etwas zu unternehmen. Oh, entschuldigen Sie bitte, Frau Logkat, dass ich Sie versehentlich dutze!“

Aesthe den Kopf schüttelnd und lächelnd: „Nein, nein, lassen wir es dabei! Hekate, das gefällt mir ohnehin sehr viel besser! Ja, Du hast Recht. Aber weil der Abt erwartet, dass wir ihn unterstützen, werde ich das kompetentere Leute als wir es sind prüfen lassen!“

Aesthe fährt Hekate direkt nach Hause, weil sie beide heute nicht mehr ins Büro gehen wollen.



(1) Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden / hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. [Bd. 1-13 mit Vorbem. von Mazzino Montinari, Bd. 1-6, 11 und 13 mit Nachw. von Giorgio Colli, übers. von Ragni Maria Gschwend]. - Dünndruck-Ausg. - München : Deutscher Taschenbuch Verlag ; Berlin ; New York : de Gruyter, 1980. - (dtv ; [5977]) Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873. - 924 S.
Darin im Abschnitt "Basler nachgelassene Schriften 1870-1873": Zwei öffentliche Vorträge über die griechische Tragödie [Erster Vortrag: Das griechische Musikdrama. Zweiter Vortrag: Socrates und die Tragödie]. Die dionysische Weltanschauung. Die Geburt des tragischen Gedankens. Sokrates und die griechische Tragödie. Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern [Über das Pathos der Wahrheit. Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Der griechische Staat. Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur. Homer's Wettkampf]. Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift "Im neuen Reich". Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Mahnruf an die Deutschen.
(2) ebd.
(3) Vgl. Manfred Spitzer: Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung und Gesellschaft; Klett, 4. Aufl., Stuttgart 2006


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Prof. Dr. habil Wolfgang F Schmid

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