Loslassen
Die Vernunft erzählt, weil sie nur in Bildern zu erklären vermag, der Definition und dem Verstand folgende Geschichte:
“Tanzan und Ekido wanderten einmal eine schmutzige Straße entlang. Zudem fiel auch noch heftiger Regen.
Als sie an eine Wegbiegung kamen, trafen sie ein hübsches Mädchen in einem Seidenkimono, welches die Kreuzung überqueren wollte, aber nicht konnte. “Komm her, Mädchen”, sagte Tanzan sogleich. Er nahm sie auf die Arme und trug sie über den Morast der Straße.
Ekido sprach kein Wort, bis sie des Nachts einen Tempel erreichten, in dem sie Rast machten. Da konnte er nicht länger an sich halten. “Wir Mönche dürfen Frauen nicht in die Nähe kommen”, sagte er zu Tanzan, “vor allem nicht den jungen und hübschen. Es ist gefährlich. Warum tatest du das?” “Ich ließ das Mädchen dort stehen”, antwortete Tanzan, “trägst du sie noch immer?”[1]
Der Verstand und die Definition werfen sich einen Blick zu und sagen dann wie aus einem Mund: “Wir sind doch keine Zen-Mönche, denn diese Art und Weise des Loslassens meinen wir nicht!”
Die Vernunft fragt die beiden: “Kennt Ihr dieses Loslassen überhaupt?”
“Mir haften keine konkreten Dinge an, denn ich habe mich von allem Konkreten befreit. Da mich deshalb auch keine Leidenschaft plagt, muss ich auch nicht lernen loszulassen!” erklärt die Definition nicht ohne Stolz.
Die Vernunft fragt bei der Definition nach, ob sie eigentlich völlig vergessen habe, dass sie ein Nichts ohne das Konkrete wäre. Nur durch Loslassen sei sie schließlich zu dem geworden, was sie ist.
“Okay, wir einigen uns darauf, dass Abstrahieren als eine Form des Loslassens verstanden werden kann!”, lenkt die Definition ein.
Der Verstand fängt an zu drängeln, doch nun endlich aufzubrechen. Die Definition beginnt nun den Ort zu beschreiben, an dem sie sich gerade befinden:
"Das Gehirn ist eine endliche Welt innerhalb der unendlichen Welt des Universums. Das Gehirn besitzt wie das Universum ein Gedächtnis, das jede Information speichert. Während das Gehirn des Universums das Quantengedächtnis ist, welches jede Information über ein neu gebildetes Molekül speichern wird.“
Die Vernunft unterbricht die Definition, weil sie wissen möchte, was das alles mit ihrer bevorstehenden Reise zu tun hat.
Die Definition lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und erklärt weiter:
“Ich selbst bin ein Quant, und ich existiere neurophysisch nur aufgrund einer Transmission. Ich bin sozusagen als Enegire eine physikalische Größe, die außerhalb des Gehirns gemessen werden kann. Du und Dein Kumpel betrachten mich vereinfacht als Gedanken, der durch das Denken entsteht. Und jetzt kannst Du auch ganz leicht meinen Beweggrund für mein Erklären erkennen. Ich bin nämlich einzig und allein nur deshalb, weil ich denke. Und indem ich auf diese Weise mit Euch beiden bin, bewegen wir uns bereits fort. Wie vom Verstand gewünscht befinden wir uns bereits längst hinter dem Horizont der Erfahrungen!”
Die Vernunft erschrickt. Sie wird schlichtweg den Eindruck nicht los, entführt worden zu sein. Was soll denn auch eine Vernunft ohne ihre Erfahrungen? Merkwürdig nur, dass sie trotzdem ihre momentanen Empfindungen spürt. Sie fühlt sich dem Verstand und der Definition ausgeliefert. Am liebsten würde sie umkehren und flüchten. Aber sie kennt sich in der Gegend vor allen Erfahrungen nicht aus und hält es für vernünftiger zu bleiben. So versucht sie, sich nichts anmerken zu lassen. Trotzdem spürt der Verstand, dass seine Vernunft irgendetwas bekümmert. Deshalb erkundigt er sich vorsichtig, ob sie sich ängstige.
Die Vernunft bestätigt den Eindruck des Verstandes und beklagt, dass sie ihre Orientierung verloren habe, weil sie seit geraumer Zeit nichts mehr wahrnehmen könne.
Der Verstand versucht, seine Vernunft zu beruhigen, indem er ihr zusichert, dass es einige Zeit bräuchte, bis sich das Wahrnehen an die veränderten Verhältnisse angepasst habe.
“Es würde mich schon sehr beruhigen, wenn ich genau wüsste, wo wir uns eigentlich befinden!”
“Wir sind dort, wo uns nichts mehr anhaftet, nämlich in Nirwana, das auch das Nichts genannt wird!”
Und plötzlich spürt die Vernunft sich als spiralförmige Bewegung. Indem sie sich darauf stark zu konzentrieren versucht, nimmt sie vor ihrem inneren Auge ein blaues Licht wahr, das sich zu einem in sich drehenden Kreis gestaltet, der sich allmählich öffnet und den Blick freigibt.
Die Vernunft erkennt Bewegungen, die sie zuvor noch nicht wahrgenommen hat. Sie bewegt sich so wie sie denkt.
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[1]Paul Reps, Ohne Worte - ohne Schweigen, 4. Aufl. 1982, S. 35
wfschmid - 19. Oktober, 05:40
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