Schöpfungsgeschichte

Nachdem die Vernunft durch die Selbstbesinnung von Gefühl und Verstand wieder ganz in sich zurückkehrt, fühlt sie sich als Intuition wieder befreit. Sie darf wieder ganz sich selbst sein und als Bilderleben wirken. Die Leidenschaft der Künstlerin, Bilder aus ihrem Bilderleben ins Werk zu setzen, um sich auf ihre ureigene Art und Weise reflektieren zu können, macht ihr Lust, die erfahrene Odysee des Gefühls mit dem Verstand mit mythischer Kulisse zu inszenieren.
Mit seiner Mutter Gaia hat Uranos viele Nachkommen; erst die Titanen, drei Kyklopen und drei Hekatoncheiren.[1] Alle diese Kinder sind ihm verhasst. Er verbirgt sie in der Tiefe der Erde, im Tartaros[2] und stößt diese mit seinem riesigen Phallus immer wieder in Gaia[3] zurück. Diese böse Tat erfreut ihn und sie erbost Gaia, die daraufhin den „grauen Stahl”[4] hervorbrachte, um daraus eine gewaltige Sichel (harpe) zu fertigen und ihre Söhne anstiftet, den Vater zu bekämpfen. Alle erschrecken. Doch der Titan Kronos erklärt sich bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Schließlich ersonn ja Uranos als erster eine schändliche Tat.
Als Uranos das nächste Mal zu Gaia steigt und bei ihr liegt, entmannt ihn Kronos mit dieser Sichel. Aus den Blutstropfen, die auf die Erde fallen, gebärt Gaia die drei Furien (Erinyen), die Giganten und die Meliaden[5]. Kronos wirft die Genitalien seines Vaters ins Meer von Paphos und Zypern, und aus dem von deren Samen aufschäumenden Meer bildet sich Aphrodite, die Göttin der Liebe.
Aber die Erinyen verfolgen seitdem jede Verletzung mütterlicher Ansprüche, selbst wenn diese nicht gerechtfertigt sind. Sie ahnden aber auch jede Verletzung einer durch Blutsverwandtschaft bedingten Rangordnung.
Der Verstand bewundert die Vernunft für diesen Mythos von der Entmannung des Uranos. Die göttliche Gewalttat, als Urzeugung zwischen Himmel und Erde und deren jähes für Uranos inszenierte Ende[6], lässt den Verstand durchaus eine Veranlagung der Vernunft zur Gewalttätigkeit erkennen. Dieser Neigung frönt sie leidenschaftlich in ihren Göttergeschichten und dadurch bedingten Religionen, die sie überall ausstreut.
Die Schöpfungsgeschichten der Vernunft berühren ihn peinlich, weil er sie zeitweilig sehr ernst nahm. Ein wenig schämt er sich nun schon für seine geradezu abenteuerlich wirkenden Versuche, die von der Vernunft gedichtete, künstlerisch arrangierte göttliche Existenz gar wissenschaftlich beweisen zu wollen.
Aber gehört nicht zu jeder Tragödie die Einswerdung durch das innige Nachvollziehen des Dramas, um Katharsis[7] zu erlangen?
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[1]ἑκατόγχειρες hekatoncheires „Hundertarmige“, aus ἑκατόν hekaton „hundert“ und χεῖρ cheir „Hand“
[2]Τάρταρος, lat: Tartarus ist der personifizierte Teil der Unterwelt, der noch hinter dem Hades liegt
[3]Γαῖα oder Γῆ ist die personifizierte Erde und bedeutet “Gebärerin”
[4] Adamas, das „Unbezwingliche”, dem Menschen nicht zugängliche Metall
[5] Meliai - die Melischen Nymphen - Eschennymphen - Dryaden, die Dämonen der Rache und rohen Gewalt
[6] Kronos übernimmt die Weltherrschaft, bis auch er von seinem Sohn Zeus gestürzt wird. (Die gesamte Darstellung geht übrigens auf Hesiod zurück.)
[7]κάθαρσις kátharsis „Reinigung“, nach Aristoteles die seelische Reinigung als Wirkung der antiken Tragödie, in der Psychologie die psychische Reinigung durch affektive Erschütterung. Ergänzung: Und letztlich ist der Streit zwischen Kunst und Wissenschaft auch nicht mehr als eine Selbstinszenierung der Kunst, um negative Utopien positiv wenden zu können.
wfschmid - 24. November, 05:10
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