Vertraut verkehrt
© urs
Die erwähnte Geschichte verdankt ihren Anfang einem Gewohnheitsfehler. Nicht selten erscheint nämlich bisweilen das, was etwas ehrfürchtig Tradition genannt wird, nur als eine Folge niemals hinterfragter Gewohnheitsfehler.„Das wurde schon immer so gemacht. Das machen wir
immer so! Und das werden wir auch in Zukunft so machen!“
Erziehung gehört zu den typischen Fortsetzungsgeschichten der Gewohnheitsfehler. Hat man, wie es sich von jeher in der Familie gehört, mit christlicher Erziehung einmal angefangen, dann nehmen die vorgesehenen Events auch ihren Lauf: Taufe, Kommunion, Hochzeit, Krankensalbung, Bestattung, alles unter der steuerpflichtigen Obhut einer Kirche.
Auch die Geschichte, um die es hier gehen wird, beginnt mit einem dieser Events, der sogenannten Kommunion, die kirchlicherseits sicherlich nicht so gemeint ist wie sie von den Kindern in ihrer spielerischen Fantasie gehandhabt wird.
Ausgerechnet an jenem Tag, an welchem diese Erzählung beginnt und sich die Fantasie entschließt, in ihre Geschichte zurückzukehren, besteht wenig Aussicht auf Klarheit.
Neuronale Nebel breiten sich fast über das gesamte Gebiet des Bewusstseins aus. Hier und da verflüchtigt sich der Nebel so, dass er sogar zeitweilig in Dunst übergeht, und bei der Vernunft, welche die Fantasie begleitet, die Hoffnung aufkommen lässt, über bloßes Sehnen hinaus zu gelangen.
Die Fantasie aber lässt sich durch solche Sichtverhältnisse nicht stören. Das starke Licht ihres Bilderlebens vermag auch den dichtesten Nebel zu durchdringen, um kräftige Bilder hervorscheinen zu lassen.
Diese Bilder werden durch den Verstand wahrgenommen, betrachtet und existentiell günstig gedeutet bzw. so zurecht gelegt, dass sie wenigstens erträglich, wenn nicht sogar erfreulich erscheinen.
Mit dem Verstand ist die muntere Gruppe der Utopisten vollständig. Fantasie, Vernunft und Verstand bezeichnen sich natürlich selbst nicht so. Die Tatsache, dass sie sich unterwegs nach Utopia befinden, ist für die drei noch längst kein Grund, für sich daraus eine Ideologie zu machen.
Utopia[1] ist ein Land, das zwar noch weit von der Wirklichkeit entfernt liegt. Aber da in dieser Gegend die Quelle aller schöpferischen Kräfte liegt, erscheint für die Fantasie, die Vernunft und den Verstand kein Weg dorthin zu weit.
Obwohl die drei bereits länger unterwegs sind, fragen sie sich erst jetzt, wer sie eigentlich auf die Idee gebracht hat, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.
Der Verstand vermutet, dass es jene göttliche Begegnung war, welche kindlicher Glaube als wirklich behauptet.
Und jetzt erinnert sich die Fantasie daran, wie begeistert sie damals war, diesen Gott selbst gestalten zu können. Die Vernunft betrachtet das von ihrer Erziehung her überaus kritisch. Es gehört sich nämlich nicht, sich ein Bild von Gott zu machen. Mit der Zeit allerdings muss jedoch auch sie zugestehen, dass die Bilder der Fantasie eine wertvolle Hilfe sein können.
Fantasie, Vernunft und Verstand sind sich einig, dass es am Abend des Kommunionstages war, als sie sich auf den Weg nach Utopia machten.
Ja, und genau an diesem Abend ist ihnen auch jene lichte Gestalt, welche sie nun erneut zu treffen hoffen, zum ersten Mal begegnet. Die drei wissen letztlich nicht, warum, aber sie sind sich sicher, dass diese Lichtgestalt die Grenze zwischen Topia[2] und Utopia schützt.
Für den Verstand bedeutet das Überschreiten dieser Grenze immer noch eine kleine Muprobe, fühlt er sich doch allein in Topia wirklich sicher. Schließlich ist es seine Sache nicht, das Gebiet des Wissens verlassen zu müssen, nur um sich auf das unsichere Feld des Glaubens einzulassen. Aber da er wesentlich zur Fantasie und Vernunft gehört, bilden sie doch gemeinsam die Dreiheit[3] “Geist“, muss er sich darauf einlassen.
Aber er wird doch jene Feste vermissen, die Exstasen[4] genannt werden, und die seiner Ansicht nach nur bei ihm zu Hause in Topia so richtig gefeiert werden können.
Exstase oder Einsicht[5], die als Licht der Erkenntnis des Außer-sich-seins in die Dunkelheit scheint, bleibt in Utopia, dem Reich der Fantasie, aus.
Deshalb sieht sich die Fantasie aufgefordert, den Verstand durch ihre Kunst der Verführung aus der Enge fehlender Bilder zu befreien.
Der Wille, der mit ihr gemeinsam in Topia der Trübsal trotzte, fordert nun die Energie des Widerstands heraus. Beide wollen sie nämlich nicht einfach akzeptieren, was ist und schon gar nicht, wie es ist, was da ist.
Sie scheinen Glück zu haben, gibt es doch für sie jenen Augenblick, welchen man auch den günstigen oder rechten Augenblick nennt. Dieser nähert sich als Vorscheinen einer helfenden schöpferischen Idee.
Die Fantasie liebt das Spiel mit Bildern, und es ist für sie ein Leichtes, schöne Bilder zu einer Idee zu binden. Schließlich ist das Bilderleben ihr Leben. Weil an diesen Bildern zugleich sowohl Vernunft als auch Verstand beteiligt sind, wird es “Denken” genannt.
Fantasie , Vernunft und Verstand machen sich gemeinsam als neuronale Kleingruppe auf Weg des Denkens.
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[1] οὐτοπία utopía „der Nicht-Ort“
[2] τόπος topos „Ort, Gemeinplatz”
[3] Tripel (Fanasie, Vernunft, Verstand) oder (Bilderleben, Bilder-Leben, Bild-Erleben)
[4] έκσταση
[5] εξέταση (κάποιας υπόθεσης, ιατρική)
wfschmid - 2. Januar, 05:00
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