Kunst öffnet, Logik schließt
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Das Bild ist ein Gedankenspiegel, in dem die Vernunft sich im Denken, also Bilderleben versucht. Bildung erscheint zuerst als Geburtsstätte der Vernunft. Gedanken bilden sich ursprünglich in Bildern ab. Die Sprache der Bilder ist die Ursprache der Vernunft. Die Vernunft muss ihre Gedanken ‘sehen’, um sie verstehen zu können. Jahrtausende später erst vermag sie dann Worte für ihre Bildnisse zu finden.So offenbart sich die Vernunft[1] des vernunftbegabten Lebewesens vor ca. 25000 Jahren als künstlerische Form in Gestalt der Venus von Willendorf oder vor 30000 Jahren in Gestalt der Venus vom Hohe Fels[2] Ein wichtiger Moment des Lebens wird in diesen Figuren[3] durch das Im Bild-Erleben künstlerisch ins Werk gesetzt.
Das frühgeschichtliche Bildnis der Vernunft wird maßgeblich bestimmt durch Erfahrungen lebewesenhafter Ereignisse wie das Zeugen und Gebären. Das Begreifen vollzieht sich noch handgreiflich als Kunsthandwerk. Der Begriff entsteht, indem die künstlerisch geschickte Hand zum Werkzeug greift und ergriffenes Matrial formt, bis es als Bildnis seiner Gedanken begreifbar und als Gedankenspiegel anschaulich wird.
So werden wesentliche Merkmale der Fortpflanzung symbolisch ins Werk gesetzt. Die Venus vom Hohle Fels hat ein ausladendes Becken, welches das Bild-Erleben “Fruchtbarkeit und Fortpflanzung” initiiert. Die gewaltigen, gleich tiefen wie breiten Brüste, die unter den Schultern hervorragen, verheißen “Nahrung”. Die Statuette hat keinen Kopf. Die Figur hat kurze Arme mit sorgfältig gschnitzten Händen und klar erkennbaren Fingern, die auf dem oberen Teil des Bauches unterhalb der Brüste ruhen. Die Venus ist von kurzer und gebeugter Statur mit einer Taille, die leicht schmaler ist als die ungefähr gleich breiten Schultern und die breiten Hüften. Die Beine der Venus sind kurz und spitz. Das Gesäß und die Genitalien sind genauer wiedergeben. Der Spalt zwischen beiden Gesäßhälften ist tief und setzt sich ohne Unterbrechung bis zum Vorderteil der Figur fort, wo die Scham[4] zwischen den geöffneten Beinen sichtbar ist.
Die frühgeschichtliche, naturverbundene Vernunft bildet Bilder-Leben in Nachahmungen natürlicher Gegebenheiten und Formen ab. Während dieser Frühphase nimmt die Vernunft vor allem gefühlsmäßig wahr. Positive Gefühle werden erzeugt durch Übereinstimmungen von sinnlich erfahrenen Formen mit angeborenen Urmustern, Trieben und Grundbedüfnissen.
Die Grundausstattung der Vernunft ist bei allen Lebewesen gleich. Ungebändigte, wilde Urkräfte des Lösens und Bindens, des Gebens und Nehmens toben sich hemmungslos im kleinsten Teil wie im größten Ganzen aus. Radikale Urkräfte kennen keine Grenzen und treiben alles über seine Extreme hinaus. Einheiten von Gegensätzen implodieren und kämpfen in sich gegen sich mit vollem Risiko der Selbstzerstörung. Naturgewalten kämpfen, bis Glücksfälle entscheiden.
Eigenschaften binden sich noch nicht zu Wesentlichem. Steigerungen verlieren sich in sich selbst. Mehr wird zunehmend weniger, um sich dann in ein Weniger, das zunehmend mehr wird, umzukehren, weil es nicht mehr weniger zu werden vermochte. Das Weniger, das nicht weiter mehr zu werden vermag, löst sich auf und das Mehr, das nun wiederum weniger wird, vervielfacht sich, bis eine Dichte erreicht wird, die das Vereinfachen des Vielfachen betreibt.
Durch Überreizung der möglichen Wirklichkeiten wird das Nichts, aus dem Nichtigen der möglichen und wirklichen Möglichkeiten hervorgegangen, überdehnt und die Einheit von Energie und Materie implodiert zu Sein, um nun das gesamte Geschehen auch materiell zu wiederholen.
Auf diese Art und Weise versammelt sich das Vielerlei zu Einem und Eigenschaften vereinen sich im Seienden. Mehrfach vielfache Pozesse spiegeln sich in Wiederholungen des Gleichen und gebären so Wahrnehmen, Betrachten, Fühlen, Verstehen des Seins. Aus der Vereinigung dieser Spiegelungen wird die Vernunft gezeugt, ausgestattet mit jenen Urtrieben, welche sie allererst ermöglichten.[5]
Sich Versagen und Entsagen sind zwar unfreiwillig, aber ein Mittel der Natur, um zu überleben. Der Verstand nimmt der Vernunft alle Lust, sich zu vergnügen, schläfert sie ein, um aus deren Neugier eine Schlafende Knospe zu gestalten. Bei Bäumen sitzen Schlafende Knospen unter der Rinde und sind kaum oder gar nicht erkennbar. Dort bleiben sie über Jahre lebensfähig bis sie sich zur Wiederherstellung verlorener Äste, Zweige oder auch des kompletten Stammes öffnen.
Die Klausur solcher Abkapselung nutzt die Vernunft, gleichsam im Spiel mit sich selbst, weckt Schlafendes Sein, um ihre Möglichkeiten zu entfalten. Diese sensibelste Innenkehr im später nur vage erahnbaren Paradies des Lichts höchster Energie gräbt sich in eine tiefe Sehnsucht, die noch sehr viel später in den wunderbarsten Mythen durchscheinen wird. In dieser frühzeitlichen Einsiedelei kehrt die Vernunft an die Quelle ihrer ursprünglichen Kräfte zurück, um das Erwachen im Verstand zu erwarten. Diese Möglichkeit wird aus einer ihr nicht gerade wohlgesinnten Wirklichkeit voller Not hereinbrechen. Strategien des Widerstehens entwickeln sich zuerst.
Die Schale eisiger Kälte schützt naturverschenkte Herzenswärme. In größter Not lehrt die Natur noch geheime Künste zu überleben. Wer einmal aus der Wüste Wasser trinkt, kennt die verborgenen Wege des Offenbarens von Wahrheit, ohne darauf zu warten, dass sich ein Dornbusch entzünden muss, um die Stimme eines Gottes anzudeuten. Der schmalste Pfad der Not führt immer an neuen Abgründen entlang zwischen Wahrheit und Lüge, Wahn und Sinn.
Die Vernunft erfährt unüberschreitbare Grenzen. Ihre Bescheidenheit wird sie vor der Überheblichkeit eines machtgeilen Unverstandes beschützen.
In geschützter Geborgenheit einer Schlafenden Knospe keimt schöpfere Fantasie, aus der nach dem Aufbruch Bilderleben spriesst. Aus Bilderleben werden sich Vorstellungen einer machbaren Welt entwickeln.
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[1] Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, tasten und fühlen. Das Fühlen zählen wir gewöhnlich nicht zu unseren Sinnen, obgleich es keinen Augenblick gibt, in dem wir nicht fühlen. Wie wir nicht nicht hören können, so könen wir auch nicht nicht fühlen.
Wir kennen Auge, Nase, Nerv, Ohr und Zunge als Sinnesorgane und vergessen dabei den Mandelkern, die Amygdala . Die Agmydala ist ein Kerngebiet des Gehirns und ist Teil des limbischen Systems. Sie spürt feinste Spuren des Werdens auf.
Die Aktivität der Amygdale ist die früheste Erscheinungsform der Vernunft.
[2] Der Hohle Fels ist eine Karsthöhle der Schwäbischen Alb und zugleich einer der bedeutendsten Fundplätze des Jungpaläolithikums in Mitteleuropa.
[3] Venus vom Hohle Fels
[4] Vulva
[5] zwischen 4,51 und 4,44 Milliarden Jahre Dauer (Alter der Erde)
wfschmid - 5. Januar, 05:55
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