Rückkehr
© urs
“Wenn Du einen Blick in die Welt des Sinnlich-nicht-Vernehmbaren tun willst, dann muss Dir klar sein, dass dort die üblichen raum-zeitlichen Grenzen nicht gelten. Du kannst also jeden Ort Deiner Geschichte zu jeder gewünschten Zeit aufsuchen. Voraussetzung ist natürlich, dass Du Dich in dieser Geschichte gut auskennst und Dich an die von Dir ausgewählte Situation gut erinnerst! Aber denke jetzt nicht, dass dieses Schauen, von dem ich spreche, bloßes Erinnern ist. Voraussetzung ist natürlich, dass Du emotional beteiligt und neugierig bist, weil Du eben etwas in Erfahrung bringen möchtest, was Dir bislang noch rätselhaft, weil verschlossen bleibt. Mit Schauen meine ich also, dass Du wahrnehmen darfst, wie sich Dir ein Geheimnis offenbart. Meistens ist es so, dass Dir solche beschaulichen Augenblicke wie angeflogen erscheinen. Es verhält sich auch so, dass Du sie auf keinen Fall planen kannst, denn Dein Unterbewusstsein oder Unbewusstsein bestimmt, wann es Möglichkeiten für solche Augenblicke freigibt. Natürlich muss Dich eine gefühlte Frage, die Dich beschäftigt, zu einer solchen Gelegenheit hinführen. Aber es kann auch ein Nachttraum sein, der eine solche Hinführung übernimmt.Die Geschichte, die ich vorhin ganz schnell notieren musste, ohne mich durch Deine Frage stören zu lassen, wurde mir im Traum diktiert. Ich habe sogar während des allmählichen Wachwerdens noch geglaubt, dass ich gar nichts vergessen kann, weil ich ja alles aufschreibe. Erst als ich vollends wach wurde, um sofort nachzusehen, wo ich meine Notizen habe, bemerkte ich, dass alles lediglich geträumt war. Also habe ich mich gleich hingesetzt und sofort alles aufgeschrieben. Das alles habe ich vorhin noch einmal tagträumend nachvollzogen. Das hat jetzt den Vorteil, dass ich noch alles gegenwärtig habe und Dir davon erzählen kann!“
Der Verstand wundert sich, wie ungewöhnlich gesprächig die Vernunft sich zeigt. Er zeigt sich allerdings nicht mit allem einverstanden, was ihm die Vernunft da erzählt. “Mir gefällt nicht, was Du als Grund für den Augenblick Deines metaphysischen Einblicks angibst! Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Moment so einfach für Dich mehr oder weniger zufällig aus dem Unbewussten hervorscheint!”
“Natürlich nicht! Hoch wahrscheinlich ist der unmittelbare Anlass für diesen Moment der Spielfilm ‘Die Schatten, die dich holen’, der von einer erfolgreichen Unternehmerin erzählt. Diese verschweigt ihrem Mann ihre Vergangenheit als Prostituierte, bis alles durch ihren ehemaligen Zuhälter, der sie erpresst, ans Licht kommt. Ein weiterer Grund für meinen Traum liegt in der Vergangenheit eines geliebten Wesens, die sich diesem nur sehr wenig offenbart!”
“Und, was erfährst Du nun durch diesen Traum?”, fragt der Verstand die Vernunft. Die Vernunft wirkt gedrückt, als sie dem Verstand antwortet: "Der Traum versetzt mich in die Situation dieses Wesens. Er vergleicht den Ehemann von dessen Mutter mit dem Zuhälter aus dem Film. Jedenfalls erlebt ihn dessen Ehefrau genau so. Sie empfindet, dass er sie wie eine Hure behandelt. Aber sie verschweigt das und verbirgt diese ihre Rolle vor ihren Kindern. Vor sich selbst spielt sie die Märtyrerin, die Zeugnis für einen Wolf im Schafspelz ablegt und durch ihr Leiden ihre Glaubensstärke beweist. Aber sie erduldet ihr Leid nicht nur, sondern fühlt sich zugleich als Racheengel auserkoren, dieses Ungeheuer im Namen Gottes zu bestrafen. Sie enthält ihm das vor, was er sich am sehnlichsten wünscht und weshalb er sie ja als junge Bäuerin und Kriegerwitwe mit ihren Kindern letztlich auch nur geheiratet hat. Schließlich ist er allein aus Not Hirte im Hause seines Herrn geworden. Zu gern hätte er ihren großen Hof mit der für ihn vorgesehenen kleinen Dorfkirche getauscht. Aber sie wollte ihm diese Hoffnung nicht erfüllen und so das Andenken an ihren geliebten ersten Mann schänden, zumal sie sich auch noch durch ihn getäuscht sah. Sie setzte aus Not und Angst auf einen Mann der Kirche, der zudem noch ihr Ansehen steigern würde. Weil sich die beiden einander im gefühlt Wesentlichen verschweigen, wird durch ihre Beziehung unsäglicher Hass geboren.”
Der Verstand unterbricht die Vernunft mit einer Frage: ”Sprach denn keiner der beiden jemals mit einem seiner Kinder?” Die Vernunft antwortet spontan aus der Sicht der getäuschten und maßlos enttäuschten Frau:
“Würdest Du diese pervertierte christliche Nächstenliebe und wie Du Dich wiederholt auf sie eingelassen hast, ans Tageslicht kommen lassen wollen? Ihre Rachedurst hat sie mit der Hoffnung gestillt, dass es ihm ihr kleines Mädchen eines Tages zeigen wird. Wie schon bei Ego beobachtet, eine Mutter gibt ihre wesentlichen Gefühle ihrem Kind mit auf seinen Lebensweg. Das ist in diesem Fall wohl eine unglückliche Mischung aus Scham und Ehrgeiz!”
Der Verstand unterbricht die Vernunft und wendet ein: ”Was soll ein Kind mit einem solchen negativen Gefühl? Es muss ihm ja ergehen wie jemandem ohne Möglichkeiten in Utopia. Da siehste einmal, was Du von Träumen hast! Nichts als dichter Nebel, der sich nicht auflöst! Zudem erscheint es mir nicht hilfreich, den eigenen Weg mit einer anderen Geschichte auszulegen!”
Die Vernunft wirft sich entrüstet vor: “Ich hätte es wissen müssen, dass die Angelegenheiten der Vernunft dem Verstand verborgen bleiben! Was glaubst Du eigentlich, warum ich nach Ens fahre?”
Für die Fantasie scheint es jetzt höchste Zeit einzugreifen: “Was streitet Ihr Euch eigentlich? Wo bleibt denn nur der Verstand der Vernunft und die Vernunft des Verstandes?" Die beiden blicken sich überrascht an. Welch’ merkwürdige Aussage der Fantasie!
wfschmid - 6. Februar, 05:05
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