Unilogo

11
Jul
2012

Davids Höhle

Davids Höhle war das Milieu, in dem er aufgewachsen ist, ein multikulturelles Fabrikarbeiterviertel. Alle Familien hatten mindestens einen Angehörigen, der in der Suppenfabrik arbeitete. Das Arbeiterviertel der Fitting, auch Georg Fischer AG, ein ebenfalls in der Schweiz ansässiges Unternehmen, eine Eisengießerei, in der nahezu ebenso viele Arbeiter beschäftigt waren wie in der Suppenfabrik, nämlich etwa viertausend, bildete die Nachbarschaft zum Niederhof. An dieses Viertel schlossen sich wiederum im Osten, Richtung Radolfzell, die Arbeitersiedlungen des schweizerischen Aluminiumwerkes an, ein Werk, das nahezu so groß wie die beiden anderen war und zu Davids weiteren, selteneren Erkundungsräumen per Fahrrad gehörte. Dass Davids Heimatstadt zu den Städten im deutsch-schweizerischen Grenzland gehörte, war ihm eigentlich nie besonders bewusst. Das galt auch für die Unterschiede zwischen Schweizern und Italienern. Jedoch kamen die Schweizer nur zum Einkaufen in die Stadt. Nur sehr wenige wohnten auch dort. Die Atmosphäre im Niederhof wurde vor allem von den italienischen Familien geprägt.
In den Fabriken waren nahezu alle Einwohner der kleinen Stadt beschäftigt, ein also nicht gerade bildungsfreundliches Gelände.
Und unterrichten durften alle, die von der französischen Besatzung dazu bestimmt wurden. Wegen des großen Lehrermangels nach dem Krieg wurde notfalls mit einem schnellstens absolvierten Kurzstudium nachgeholfen. Die Qualitäten des Lehrens und Lernens wurde regelmäßig von der französischen Schulaufsicht kontrolliert. Die erzieherischen Maßnahmen einiger Lehrer bestanden darin, was sie im Krieg und Gefangenschaft gelernt hatten: Einsperren oder Schlagen. Das von den Franzosen aufgezwungene reformpädagogische Konzept kam ihnen sehr entgegen, konnten sie damit doch ihre methodischen und didaktischen Mängel nach außen hin gut kaschieren. Davids bildungshungrige, neugierige Seele konnte diese Lehrer einfach nicht ernst nehmen, mit anderen Worten, sie wurden mit dem schwierigen David kaum fertig. Im Unterricht des Deutsch- und Musiklehrers fasste sich David öfters ans Kinn, um mit leicht geöffneter Faust den nicht vorhandenen Spitzbart lang zu ziehen, was bedeutet: "Die Bartspitzen sind im Keller zu besichtigen!" Aber Herr Bürgesser nahm das humorvoll und bisweilen als Aufforderung, doch endlich mit seinem langweiligen Unterricht fortzusetzen. Bei der Vorgängerin dieses Lehrers, Fräulein Umrath gehörte David zu jenen, welche aus Strafe am meisten ihr Fahrrad putzen mussten. Fräulein Umrath könne es nun einmal nicht ertragen, wenn David sie im Unterricht korrigierte. Dennoch nutzte sie die Zeit nachmittags mit David, um sich von ihm nach getaner Arbeit bei Kuchen und Kakao unterrichtliche Verbesserungsvorschläge anzuhören. Als weitaus jüngste Lehrerin an der Schule, ein Mädchen noch, nahm sie diese sehr interessiert auf. Eines Tages wollte sie von David erfahren, woher er das alles wisse. Zu ihrer Überraschung erfuhr Fräulein Umrath von David, dass er selbst täglich unterrichtete. Um nämlich den vielen Schulstoff besser behalten zu können, brachte er diesen seiner in der Fantasie vorgestellten Schulklasse bei. Weil er nicht viele geistig helle Kinder in seiner Klasse hatte, musste er den Unterrichtsstoff immer und immer wieder erklären.

Durch die Strategie dieser Lehrerin pervertierte Davids Strafe zur Belohnung, denn er half Fräulein Umrath gerne. Es war wohl gut, das Tante Betty von alle dem nichts wusste, denn nur seinem Vater erzählte David auf den Nachhausewegen vom Büro von diesen Besuchen. Für David war das eine Form der unausgesprochenen Anerkennung, die er sonst zu Hause nicht erfuhr, gleichgültig, welche praktischen Versuche, Betty entgegenzukommen, er auch startete.

David hat darüber hinaus viel von seinem blinden Vater gelernt. Weil er ihn als Kind liebte und auch Mitleid für ihn hatte, bereitete er sich für die vielen Begleitungen immer sorgfältig vor. Auf dem Hinweg zum Büro beobachtete er die Umgebung sehr genau, um zu selektieren, was zu erzählen, für seinen Vater von Interesse sein könnte. Besonders freute ihn, wenn wieder einmal viele LKWs der Spedition Haniel an der Lade- und Entladerampe der Suppenfabrik standen, denn als ehemaliger Expedient bei Haniel interessierte das seinen Vaters ganz besonders. So ließ er sich von David diese LKWs sehr genau beschreiben. Der Nachhauseweg führte ja zum größten Teil an diesem Fabrikgelände vorbei. Besonders spannend wurde es, wenn die große Güterzuglokomotive über die Straße dem Gelände entlang Güterwagen hin und rangierte. Eines Tages sagte David seinem Vater, dass er so eine Lokomotive gern einmal von innen sehen möchte. Sein Vater sagte nichts, blieb einfach auf dem Rangiergleis stehen und hielt einen weißen Stock ausgestreckt vor sich, was als Zeichen "Stopp" bedeutete. Der Rangiermeister kam sofort angerannt und ermahnte Davids Vater, das Gleis sofort zu verlassen. Aber dieser bestand freundlich bittend darauf, dass sein Junge einmal die Lokomotive von innen sehen möchte. Der Rangierer schüttelte angesichts der eingegangenen Gefahr den Kopf und rannte zur Lokomotive, die sich bereits im Schritttempo näherte und sprang auf. Nach kurzer Zeit sprang er wieder herunter, rannte auf die Straße und gab dem Lokomotivführer mit seinem roten Fähnchen Zeichen. Die riesige Güterzuglokomotive blieb mitten auf der Straße kurz vor Davids Vater stehen. Der Lokomotivführer schaute aus dem Führerhaus und rief David zu sich. Dieser nahm die ausgestreckte rusgeschwärzte Hand und kletterte in die Lokomotive. Wegen der inzwischen hupenden Autos konnte er nur einen beeindruckenden Blick erhaschen, stieg wieder hinab und rannte zu seinem Vater zurück. Der Nachhauseweg und der Rangiervorgang wurde fortgesetzt, nachdem David noch einmal gewunken und sein Vater sich bedankt hatte. Seltsamerweise wurde über diese Ereignis nie mehr gesprochen, wohl deshalb, weil das für Davids Vater eine Selbstverständlichkeit war. Doch für David war es ein sensibler Punkt, denn er begriff, dass es selbstverständlich ist, dass geklärt wird, sobald etwas unklar ist. Diese Erwartungshaltung prägte sein Verhalten in der Schule. Er hatte nirgendwo Scheu zu fragen. Und er fragte fortan überall dort, wo andere sich das nicht mehr getrauten.

David konnte damals noch nicht ahnen, dass das Fragen sein Denken maßgeblich beeinflussen sollte.

==>> Neugier

Seit 20 Jahren BEGRIFFSKALENDER

Prof. Dr. habil Wolfgang F Schmid

Grundsätzliches (www.wolfgang-schmid.de)

 

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