Buch Protagoras
Protagoras gibt zu bedenken, dass Kinder eigentlich viel zu spät ihre Lehrer finden. "Andererseits müssen sie ja lesen und schreiben können, um ihre wichtigen Gedanken erfassen zu können", fügt er hinzu. "Aber die Elementarlehrer machen aus Kindern Marionetten, die fraglos ausführen, was ihnen aufgetragen wird. Das ist es, was wir vor allem verhindern müssen."
Platon fragt Protagoras, wie er das zu meistern gedenke, ohne zu einer vollkommen anderen Erziehung zu erziehen: "Wenn in Sparta ein Kind geboren wird, ist es nicht das Recht des Vaters zu entscheiden, ob es aufzuziehen sei. Er muss es an einen festgesetzten Ort bringen, wo die Gemeindeältesten es genau untersuchen. Ist es von festem Gliederbau und kräftig, lassen sie es aufziehen und teilen ihm eines der 9000 Staatsgrundstücke zu. Ist es aber schwach und missgebildet, so lassen sie es in einen Felsenabgrund hinabstürzen. Sie meinen nämlich, dass es für ein Wesen, das nicht fähig sei, gesund und kräftig heranzuwachsen, im eigenen Interesse und in dem des Staates besser sei, nicht zu leben.
Die Ammen ziehen die Säuglinge ohne einengende Windeln auf und lassen es so zu, dass die Glieder der Kleinen sich frei entwickeln. Sie bringen sie dazu, glücklich und zufrieden zu sein, nicht wählerisch beim Essen, Dunkelheit und Alleinsein nicht zu fürchten und nicht launisch und weinerlich zu sein. Darum leisten sich Fremde oft Ammen aus Sparta.
Ich erzähle Euch das, um zu zeigen, auf welche Weise Erziehung verkommt, wenn der Staat diese Aufgabe übernimmt. Hier in Athen ist das anders. In Athen bestimmt der Vater über sein Kind. Die kleinen Säuglinge werden in Stoffbahnen gewickelt und liegen in Körben, Wiegen oder Holzkästen. Falls die Mutter das Kind nicht stillen und erziehen will, übernimmt eine Amme diese Aufgabe. Mütter und Ammen singen den Kindern vor und erzählen Geschichten. Dabei gibt es auch Geschichten um unheimliche Geschöpfe, die den Kindern einen heilsamen Schrecken einjagen sollen. Fabeln erfreuen sich großer Beliebtheit und dienen der Belehrung der Kinder. Die Kinder spielen mit Klappern, Tieren aus Terrakotta, die Mädchen mit Puppen, deren Gliedmaßen zum Teil beweglich sind. Daneben sind auch zahlreiche Tiere Spielgefährten, von Heuschrecken bis Hunden.
Die Knaben entzieht der Gesetzgeber, sobald sie sieben Jahre alt sind, ihren Vätern und lässt sie in ‚Herden’ miteinander aufwachsen und erziehen. Hier lernen sie, beim Spiel wie bei ernster Betätigung, immer beisammen zu sein, damit sie die Regeln und Gesetze der Gemeinschaft erfahren."
Sokrates sieht Platon erstaunt an: "Ich sehe aber auch entschiedene Nachteile."
wfschmid - 12. Januar, 04:00
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