Betrüger
Das Fantasiebild des Heiligen entwickelte sich so allmählich,
dass ihm Zeit blieb, das Trugbild für sich zu nutzen. Gefühle der Macht steigen auf
und vermitteln den Eindruck, alles bewerkstelligen zu können.
Er erfindet sich als Guru und spielt den Asketen.
Entsagung ist die beste Tarnung der Macht.
Jetzt muss er nur noch berühmt werden.
Eines Tages sucht ihn ein junger Abt auf.
"Meister, ich habe einen langen Weg zurückgelegt, um Dich aufzusuchen!"
Der Scheinheilige fühlt sich geschmeichelt.
"Guter Meister, ich möchte lernen, wie Du Gott zu begegnen!"
"Was hast Du mir anzubieten?", fragt der Frömmler.
Jetzt wußte der Abt Bescheid.
Zwei Seiten
Wer sich selbst betrügt, fällt sich
- ohne das wahrzunehmen - in den Rücken.
Wer andere belügt,
wird an seinem vermeintlichen Vorteil ersticken.
Er muss sich und andere manipulieren, bis sein triebgesteuertes Weltbild
zum Triumph seiner Begierden anschwillt.
Doch niemand kommt als Betrüger zur Welt.
Trugbilder wachsen stetig durch fehlgeleitete Fantasie.
Der Wille, mächtiger als andere zu werden,
setzt auf den blendenden Schein des fremdgesteuerten Ichs.
Meister und selbsternannte Gottesvertreter, Heilige und Scheinanbeter
- das Ich entscheidet, was zutreffend ist.
(urs)