Reichweite der Sprache

Halten wir fest: Die Sprache des Alltags und die Sprache der Wissenschaft erscheinen gleichsam als Gegensätze. Und die Sprache der Kunst bildet wiederum eine andere Art von Gegensatz zur Sprache der Wissenschaft, aber auch zur Sprache des Alltags.
Sprache setzt dem Bewusstsein Grenzen. Das Bewusstsein organisiert die Reichweite unserer Wahrnehmungen. Das Wahrnehmen reicht nur so weit, wie die Sprache das zulässt. Was ich nicht ansprechen kann, das vermag ich auch nur sehr vage wahrzunehmen. Wahrheit bedeutet Offenheit des Seins. Diese Offenheit wird durch Sprache ermöglicht. Es wäre allerdings ein Missverständnis, anzunehmen, dass offen das ist, was auch klar ist. Die gewöhnlich leicht verständliche Sprache des Alltags erscheint zwar klar, aber das, was sie mitteilt, kann sehr wohl unwahr sein. Vollkommen anders verhält es sich dagegen bei der Sprache der Kunst. Kunst setzt natürlicherweise Wahrheit ins Werk. Künstlerische Sprache kann sehr wohl unverständlich sein, aber nicht unwahr. Da stellt sich die Frage, ob sie sich denn in der Kunst nicht auch zur Lüge missbrauchen lässt.
Wahrheit im ursprünglichen Sinn, Offenheit also, ist nicht der Gegensatz zur Lüge. Der Gegensatz zur Wahrheit ist Unwahrheit, Unoffenheit also. Wer unoffen ist, sagt etwas nicht, verschweigt etwas. Wer lügt, teilt dagegen etwas falsch oder zumindest stark verstellt mit. Der Gegensatz zur Lüge ist Richtigkeit oder Tatsache. Eine Tatsache ist immer richtig, aber nicht deshalb schon wahr. Eine Tatsache erscheint als solche immer unter einem bestimmten Gesichtspunkt als tatsächlich. Aus einer Tatsache wird erst dann ein wahrer Sachverhalt, wenn eine Situation oder ein Ereignis ganzheitlich zum Vorschein gelangt, folglich in ihren Zusammenhängen betrachtet wird.
wfschmid - 26. September, 07:13
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