Unilogo

24
Dez
2019

1. GEHEIMNIS

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann es mir zum ersten Mal aufgefallen ist. Ich kann mich auch nicht entsinnen, warum es mir eigentlich aufgefallen ist. Ich weiß noch, dass mir das so absurd erschien, was ich da entdeckt hatte, dass ich es erst einmal vorzog, darüber zu schweigen.
Zudem ging mir überhaupt nicht in den Kopf, warum das noch niemandem aufgefallen sein sollte. Das konn-te nicht sein, zumal es ja nicht schwer zu entdecken war und also jedem längst aufgefallen sein musste.
So beschäftigte mich also vor allem die Frage, warum niemand etwas sagte. Zu der Zeit, als sich mir diese Frage stellte, muss ich noch sehr jung gewesen sein. Ich kann mich nämlich noch sehr genau an mein Gefühl erinnern. Ich empfand so etwas wie Peinlichkeit. Ich hatte das Gefühl, dass es unanständig wäre, darüber zu sprechen. Auch befürchtete ich, gar als seelisch krank zu gelten.
Mit der Zeit wurde mir auch allmählich klar, dass es sehr schwierig sein dürfte, darüber etwas zu sagen. Das lag vor allem daran, dass alles so aussah, als ob es sich tatsächlich so ereignet, wie man es wahrnimmt. Viel-leicht ist ja die Täuschung so perfekt, dass es kaum jemandem auffällt.
Jahre später erfuhr ich gleich im ersten Semester mei-nes Philosophiestudiums, dass es tatsächlich so etwas geben muss wie die vollkommene Täuschung. Ich erfuhr das im Höhlengleichnis des Philosophen Platon, der von 427 bis 347 vor Christi Geburt lebte.
Dieser Philosoph schildert das Höhlengleichnis, um uns klar zu machen, dass wir uns über die Welt, in der wir leben, grundsätzlich täuschen, dass nicht wirklich ist, was wir dafürhalten.
Aber es ist wohl am besten, ich erzähle dieses Gleichnis erst einmal, indem ich schildere, was in dieser Höhle geschieht.
Hat man sich an die Dunkelheit der nur von einem kleinen Feuer beleuchteten Höhle gewöhnt, dann er-kennt man sehr bald, dass dort gegen die Wand hin gefesselte Menschen sitzen, die sich nicht umdrehen können und deshalb nur Schatten an der Höhlenwand sehen. Es sind die Schatten der Menschen, die hinter dem Rücken der Gefangenen und dem Feuer Gegen-stände und Speisen hin- und hertragen. Die Gefangenen aber kennen allein die Schatten dieser Gestalten und halten diese Schatten also für die Gestalten selbst. Deshalb ordnen sie ihnen auch sogar die Stimmen zu, die sie hören. Die Schattenwelt ist die Welt, wie die Gefangenen sie erleben.
Die Gefangenen halten ihre Erlebniswelt für die Wirk-lichkeit, denn sie befinden sich von Geburt an in dieser Lage. Und Platon provoziert uns, indem er uns sagt, dass unsere sogenannte reale Welt nichts als eine Schat-tenwelt ist.
Das, was wir wahrnehmen, ist nicht mehr als Abschat-tung von etwas, das wir selbst nicht wahrzunehmen vermögen, weil wir uns ebenfalls nicht umdrehen, un-sere Sichtweise nicht verändern können.
Dabei muss es jedenfalls nicht bleiben. Wir sind nicht dazu verurteilt, unser gesamtes Leben als Gefangene unserer Schattenwelt zu verbringen.
Platon behauptet nun, dass sich niemand selbst aus seiner miserablen Lage befreien kann.
Jeder braucht einen Lehrer, der ihn befreit. „Erzie-hung“ ist für Platon der Name für diese Befreiung.
In seinem Höhlengleichnis fragt Platon, was geschehen würde, wenn einer der Gefangenen in der Höhle befreit würde. Der Philosoph sagt, dass eine solche Befreiung gewaltsam geschehen müsste, weil sich niemand freiwil-lig von Gewohnheiten trennt, die ihn ein Leben lang bestimmt haben. Und wir alle spüren auch, wie sehr wir uns dagegen wehren, Platon zu glauben, dass alles, mit dem wir zu tun haben, nicht mehr ist als Schatten.
Statt uns in unserer Sichtweise zu wenden, halten wir lieber seine Auffassungen für verdreht. Und einem Verrückten braucht man nicht zu folgen. Dennoch sollen wir uns nun vorstellen, dass einer der Gefange-nen von seinen Fesseln befreit wird.
Der so befreite Mensch kann sich jetzt umdrehen und plötzlich klar erkennen, dass das, was er sehen kann, überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was er bislang für wahr gehalten hat. Allmählich gewöhnt er sich an seine Freiheit und folglich auch daran, Zusammenhänge er-kennen zu können. So erkennt er die Schatten als Pro-jektionen dieser Gestalten vor dem Feuer. Sie bewa-chen die Gefangenen, und er erkennt nicht nur die Schatten als Wächter, sondern er nimmt auch einen Weg wahr, der nach oben zum Höhlenausgang führt.
Weil er neugierig geworden ist, folgt er diesem Weg vorsichtig nach oben, wohl darauf gefasst, dass die Höhle auch nicht die Welt ist und er jederzeit mit einer weiteren Überraschung rechnen muss. Als er schließlich zum Ausgang gelangt, bekommt große Angst, weil er wegen des sehr grellen Lichts, das seine Augen blendet, nichts mehr erkennen kann.
Als sich dann seine Augen an das Licht der Sonne ge-wöhnt haben, erkennt er wiederum ein Feuer; er hält die Sonne dafür, und er kommt zu dem Schluss, dass es sich bei den Dingen, die er nun wahrnehmen kann, wiederum nur um Abschattungen handelt.
Deshalb folgert er, dass er erneut einen Weg finden muss, der ihn aus dieser Welt der Schatten hinausführt.
Den Inhalt dieses Höhlengleichnisses empfand ich des-halb als außerordentlich beruhigend, weil ich jetzt wusste, dass mich mein Gefühl nicht täuschte und es tatsächlich so etwas gab wie die wesentliche Täu-schung, die ich spürte. Und mir war dadurch auch klar-geworden, dass ich mit meiner Entdeckung behutsam sein musste. Es ist nahezu unmöglich, so darüber zu berichten, als handle es sich um eine normale Begeben-heit.
So lag für mich der Gedanke nahe, erst einmal alles aufzuschreiben. Ich hatte damals bereits mein erstes Buch veröffentlicht. Jetzt, wo ich das erwähne, wird mir klar, dass dieses Buch mit dem, was ich hier gerade tue, gemeinsam hat, dass es damit dasselbe Geheimnis teilt.
Vor allem gibt dieses Buch auch Aufschluss über den Beweggrund, der letztlich zu jener Entdeckung führte, über welche ich hier berichten und auf jeden Fall ver-hindern möchte, mit der Tür ins Haus zu fallen.
Und ich bin sehr zufrieden damit, dass ich bis jetzt noch zurückgehalten habe, worum es eigentlich gehen wird.
Aber ich spüre irgendwie die Verpflichtung, sehr vorsichtig damit umgehen zu müssen. Es wäre wirklich befreiend, wenn ich das alles einfach delegieren könnte. Es könnten sich mehrere fachkundige Leute damit beschäftigen. Schließlich sehen viele Augen wirklich mehr als zwei.
Okay, diese Art von Hilfestellung kann ich mir nicht verschaffen und ich muss mich vorerst schon damit abfinden, das wohl erst einmal allein bewältigen zu müssen.
Nun aber zum erwähnten Grund, der zu dieser Entde-ckung führte. Es war der Beweggrund, der mich im Alter von etwa sechzehn Jahren veranlasste, mit dem Manuskript zu dem Buch „Totzeit“ zu beginnen. Ich erinnere mich noch genau an die Situation, die mich damals dazu bewegte.
Ich weiß nicht, ob ich elf oder zwölf Jahre alt war. Auf jeden Fall kann ich nicht älter gewesen sein, da ich ja noch zu Hause lebte. Ich befand mich auf dem Weg zum Büro meines Vaters. Weil ich diesen Weg mehr-mals in der Woche ging, war er für mich langweilig geworden und ich konnte mich unterwegs mit meinen Gedanken beschäftigen. Ich ging diesen Weg, um mei-nen blinden Vater abzuholen und nach Hause zu füh-ren.
Ich weiß nicht, ob es gerade zu dieser Zeit altersgemäß war, über die Schlechtigkeit der Welt nachzudenken, ich tat es jedenfalls auf diesem Weg zum Büro immer wieder. Grund genug dazu gab es ja. Schließlich kannte ich keinen erwachsenen Mann, der nicht kriegsverletzt war. Zudem arbeitete mein Vater für einen Verband, VdK, der sich um Kriegsbeschädigte und Kriegshinter-bliebene kümmerte, um die sich der Staat zu wenig oder gar nicht sorgte. Als Sozialrichter kümmerte er sich vor allem um deren Rentenangelegenheiten. Wäh-rend ich in seinem Büro saß und auf das Ende der Sprechstunde wartete, bekam ich jedenfalls das ganze Elend der armen Leute hautnah mit.
Grund genug also, um unterwegs intensiv immer wie-der darüber nachzudenken, warum Menschen wohl so schrecklich grausam miteinander umgingen, dass sie Krieg gegeneinander führten und sich töteten.
Ich kam damals zu dem kindlich einfachen Schluss, dass dies nur einfach an der Gottlosigkeit der Men-schen lag.
Diese Überlegung führte mich dann in die Auseinandersetzung mit der Kirche, von der mein Vater so gar nichts hielt. Vor allem beschäftigte mich damals dann auch die Frage, warum wir Menschen eigentlich auf Menschen angewiesen sein sollen, die uns als Priester sagen, was Gott von uns will. Absolut nicht einleuch-tend, warum das uns dieser Gott nicht gefälligst selbst sagt.
Also musste und wollte ich das in meiner Naivität her-ausfinden. Und so fing ich einige Jahre später auch damit an, meine Gedanken aufzuschreiben, weil es für mich viel zu kompliziert geworden war, alles im Kopf zu behalten und zu bearbeiten.
Das Abfassen des Manuskripts zum Buch „Totzeit“ zeigte mir, was mir später das Studium der Philosophie bestätigte, nämlich dass das Denken in eine Frage eher tiefer hineinführt als sie zu beantworten.
Stellt sich also zusätzlich die Frage, was genau da beim Denken schiefläuft. In mir entstand die Vermutung, dass auch das Denken zum großen Teil durch jenes Phänomen gestört wird, um das es hier geht.
Wenn dem aber so sein sollte, dann bestünde vielleicht die Gefahr, dass gar nicht verstehbar werden kann, worum es hier wesentlich geht, weil das Denken mög-licherweise so angelegt ist, um genau das zu verhindern.

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Prof. Dr. habil Wolfgang F Schmid

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