Unilogo

5
Okt
2012

4.5 (23) Staunen





 

Staunen ist eine Emotion aufgrund einer unerwarteten, weil vollkommen ungewöhnlichen Wahrnehmung. Das Vernommene steht im Widerspruch zu allen Erfahrungen und Verhaltensmustern. Innere Erregung fördert die Motivation, das Unbekannte zu erforschen, zu lernen, was es damit auf sich hat.

Aristoteles betrachtet das Staunen als Beginn des Philosophierens. Dieses Ereignis wird durch ein unbekanntes oder überraschendes Phänomen ausgelöst, das verwundert. Platon, der Lehrer des Aristoteles, sieht im Staunen gar den Anfang aller Philosophie schlechthin. Im Dialog Theaitetos (155) sagt er:
„Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

Als seelisches Empfinden ruft das Staunen die Vernunft auf den Plan. Die Neugier wird geweckt, und der Verstand fängt an zu suchen, indem er fragt.

Wenn sich Seele, Vernunft, Verstand harmonisieren, öffnet sich das innere Auge.

Das innere Auge öffnet sich durch Harmonie zwischen dem Fühlen der Seele, dem Wahrnehmen oder Gestalten der Vernunft und dem Denken oder Formen des Verstandes. Wenn der Verstand sich nicht einmischt, bleibt Bewusstwerden intuitiv und Erkennen vollzieht sich staunend als Glauben.

Vor allem die Fantasie bestimmt die Sehkraft des inneren Auges. Die Vernunft regelt Licht und Farbgebung. Der Verstand steuert die Trennschärfe des inneren Sehens bzw. des Sich-Vorstellens. Ohne scharfen Verstand lässt sich nichts deutlich genug visualisieren, was die Fantasie schaut.

Das Wahrnehmen des inneren Auges beginnt mit einer Vision, das ist eine Erfahrung des schauenden Geistes. Er wird aus der Tiefe der inneren Welt der Seele zur Projektion von Möglichkeiten angeregt. Die Fantasie gestaltet aus diesem Spiel erst die für die Vernunft wahrnehmbaren Bilder, und der Verstand schließlich bringt sie künstlerisch oder wissenschaftlich zur Sprache.

Das Öffnen des inneren Auges lässt sich sehr einfach bewusst machen. Wer Bilder sieht, während er Musik hört, wer die Gedanken aufnimmt, während er ein Kunstwerk betrachtet oder wer die Erfahrungen nachvollzieht, die Poesie wachruft, der erlebt inneres Wahrnehmen. Wer in einen inneren Dialog gelangt über das, was das innere Auge wahr nimmt, gewinnt an Sicherheit, geistig tatsächlich etwas geschaut zu haben.

Umgekehrt kann uns die innere Stimme auch sagen, worauf unser inneres Wahrnehmen achten soll. Oder unser Gewissen mahnt uns bei dem, was wir gerade tun und eigentlich nicht tun sollten, dass uns jemand dabei irgendwann doch einmal ertappen könnte.

Als Emotion gestaltet das Staunen künstlerisches und philosophisches Vorbewusstsein. Bilder gestalten sich in einer Art Vorhof, bevor sie bewusst werden. Innerhalb dieses Vorraums formulieren sich Gedanken, bevor sie zur Sprache kommen. Der künstlerisch Schaffende ,weiß‘ bereits, was er sagen möchte, ohne es schon in Worte fassen zu können, Bilder erscheinen gleichsam als Negative, die sich erst noch entwickeln müssen.

Dieser Vorhof künstlerischen und philosophischen Schaffens bildet die geheimnisvolle Werkstatt, in der die Wesensaussagen entstehen, die dann ins Werk gesetzt werden. Gewöhnlich handelt es sich um unbekannte Innenbilder, welche die Seele dort entdeckt. In diesen Innenbildern offenbart die Seele Geheimnisse, die sie unter Umständen bis dahin noch streng gehütet hatte. Insofern gerät die Seele dann ins Staunen über sich selbst.

Solch‘ Erstaunliches gewinnt allmählich so an Bedeutung, dass es in die Öffentlichkeit drängt. Also wird das staunende Schauen ins Werk gesetzt.

Der Antrieb dieser inneren Bewegung ist der natürliche Trieb des Selbst, sich im Ich einzurichten. Das Phänomen dieser Motivation ist das sichere Zeichen künstlerischer und philosophischer Begabung.
 

Trackback URL:
https://wolfgangschmid.twoday.net/stories/156272016/modTrackback

Seit 20 Jahren BEGRIFFSKALENDER

Prof. Dr. habil Wolfgang F Schmid

Grundsätzliches (www.wolfgang-schmid.de)

 

Archiv

März 2025
Januar 2025
Dezember 2024
Juli 2024
Januar 2024
Dezember 2023
Oktober 2023
August 2023
Juli 2023
Juni 2023
Mai 2023
April 2023
Januar 2023
Dezember 2022
Oktober 2022
September 2022
Juni 2022
Mai 2022
März 2022
Februar 2022
Januar 2022
Dezember 2021
November 2021
Oktober 2021
September 2021
August 2021
Juli 2021
Mai 2021
April 2021
März 2021
Februar 2021
Januar 2021
Dezember 2020
November 2020
Oktober 2020
September 2020
Juni 2020
Mai 2020
April 2020
März 2020
Februar 2020
Januar 2020
Dezember 2019
November 2019
Oktober 2019
Juni 2019
Mai 2019
April 2019
März 2019
April 2018
März 2018
Februar 2018
Januar 2018
Dezember 2017
November 2017
Oktober 2017
September 2017
August 2017
Juli 2017
Juni 2017
Mai 2017
April 2017
März 2017
Februar 2017
Januar 2017
Dezember 2016
November 2016
Oktober 2016
September 2016
August 2016
Juli 2016
Juni 2016
Mai 2016
April 2016
März 2016
Februar 2016
Januar 2016
Dezember 2015
November 2015
Oktober 2015
September 2015
August 2015
Juli 2015
Juni 2015
Mai 2015
April 2015
März 2015
Februar 2015
Januar 2015
Dezember 2014
November 2014
Oktober 2014
September 2014
August 2014
Juli 2014
Juni 2014
Mai 2014
April 2014
März 2014
Februar 2014
Januar 2014
Dezember 2013
November 2013
Oktober 2013
September 2013
August 2013
Juli 2013
Juni 2013
Mai 2013
April 2013
März 2013
Februar 2013
Januar 2013
Dezember 2012
November 2012
Oktober 2012
September 2012
August 2012
Juli 2012
Juni 2012
Mai 2012
April 2012
März 2012
Februar 2012
Januar 2012
Dezember 2011
November 2011
Oktober 2011
September 2011
August 2011
Juli 2011
Juni 2011
Mai 2011
April 2011
März 2011
Februar 2011
Januar 2011
Dezember 2010
November 2010
Oktober 2010
September 2010
August 2010
Juli 2010
Juni 2010
Mai 2010
April 2010
März 2010
Februar 2010
Januar 2010
Dezember 2009
November 2009
Oktober 2009
Juni 2009
Mai 2009
April 2009
März 2009
Februar 2009
Januar 2009
Dezember 2008
Oktober 2008
Februar 2007
Januar 2007
Dezember 2006
November 2006
Oktober 2006
September 2006
Dezember 2005
November 2005
Oktober 2005
September 2005
August 2005
Juli 2005
Juni 2005
Mai 2005
April 2005
März 2005
Februar 2005
Januar 2005
Dezember 2004

Aktuelle Beiträge

Am Anfang war das Wort
Am Anfang war das Wort, und das Wort war das Sein,...
wfschmid - 10. März, 02:28
Schauen, was nicht zu...
Neue Publikation, auch in englischer Spreche Bestellung...
wfschmid - 22. Januar, 13:11
URSPRUNG DER INFORMATION...
Vernunft und Verstand begabter intelligenter Wesen...
wfschmid - 26. Dezember, 07:10
Bildlose Gedanken sind...
Bewusstwerden wird als Bilderleben sowohl von der Vernunft...
wfschmid - 21. Dezember, 06:11
ES GIBT DINGE, DIE GIBT...
ES GIBT DINGE, DIE GIBT ES GAR NICHT Dieser Spruch...
wfschmid - 14. Dezember, 11:22
Vernunft <--->...
Bewusstwerden wird als Bilderleben sowohl von der Vernunft...
wfschmid - 13. Dezember, 21:49
H u m o r
Gefräßige Gesellschaft www.greedype rson.com
wfschmid - 25. Juli, 12:09
Dreamed out
If a priori represents a metaphysical congruence with...
wfschmid - 9. Januar, 05:24

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Status

Online seit 7628 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 10. März, 02:28

Suche (AND, OR erlaubt) - Nächste (leere) Zeile anklicken!

 

Credits

 

 

Es gelten die Rechtsvorschriften für Webseiten der Universität Flensburg © Texte: Wolfgang F. Schmid (sofern nicht anders ausgewiesen) wfschmid(at)me.com Bilder: Ulrike Schmid (sofern nicht anders ausgewiesen) mail(at)ulrike-schmid.de

 wfs