Das Problem der Wahrheit ist die Richtigkeit
Seit Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) existiert für die Wahrheit ein Problem. Indem ihr der Philosoph die Richtigkeit entgegengestellt, entzieht er ihr den seit Jahrtausenden währenden Anspruch, für den Menschen das höchste Gut zu sein. Durch das Denken des Aristoteles verfinstert sich die Sonne als Sinnbild der höchsten Idee des Guten. Weil nicht wahr sein kann, was nicht zu überprüfen ist, verursacht die Wende der Wahrheit zur Richtigkeit eine Götterdämmerung, die bis heute nicht überwunden ist. Nietzsches Wort vom Tod des (alten) Gottes wird immer noch nicht als radikale Absage an alle Inhalte des Glaubens verstanden, und damit wird auch nicht begriffen, dass es hierbei nicht um die geglaubte Existenz Gottes geht, sondern vielmehr um eine Ermahnung, von bestimmten Fantasien abzulassen. Nietzsche bestreitet nicht den Glauben, sondern die Annahme, diesen philosophisch behandeln zu können. Die ständige Verwechslung von Wahrheit und Richtigkeit führt in die Katastrophe. Die Gefahr der Atomenergie ist keine Glaubensfrage, sondern eine Frage des Wissens. Wenn man anfängt, das zu glauben, was man eigentlich wissen muss, hört man auf zu überprüfen. Dieser Mangel an Aufklärung greift tief in unseren Alltag ein, indem das, was wir glauben, unser Handeln bestimmt. Die "Erfindung" der Subjektivität hat dazu geführt, das Bemühen um objektive Erkenntnis zu vernachlässigen. Die Idee der Subjektivität isoliert das Subjekt und inhaftiert es in einer Welt der bloßen Meinungen.
Ob das Subjekt in seiner Subjektivität untergeht oder es ihm gelingt, sich die Sicherheit des Ichs zu verschaffen, ist für den Philosophen Descartes (1561-1650) eine Frage der Selbst-Verantwortung. Die Unzuverlässigkeit der Subjektivität währt ja nur so lange wie man sich deren Unbeständigkeit aussetzt. Das Wesen des Subjektiven verhält sich nämlich nicht anders als die Natur: unbeständig, da im ständigen Wechsel zu Hause. Dieser Wechsel, dem das Ich ständig ausgesetzt wird, ist das Werden oder die Bewegung des Geistes. Und wenn überhaupt nichts mehr sicher ist, dann bleibt noch als letzte und zugleich auch erste Sicherheit das Erleben des eigenen Denkens. "Ich denke, also bin ich!" Nicht die Sinne vergewissern mich meiner Welt, sondern das Denken. Mit dieser Quasi-Wiederentdeckung des Bewusstwerdens als Grund aller Ich-Erfahrung beendet Descartes gleichsam den Vollzug der durch Aristoteles eingeleiteten Wende. Auch das Ich-Werden lässt sich selbstverständlich überprüfen, nämlich durch das Denken. Richtigkeit steht als solche nicht mehr der Wahrheit gegenüber, sondern erscheint als eine Kategorie von Wahrheit. Was wahr ist, kann nicht falsch sein. Selbst wenn jemand total irrt, bleibt wahr, dass er ein total Irrender ist. Und an dieser Stelle verbrüdern sich Wahrheit und Richtigkeit, denn das durchgängige Irren muss als solches nachgewiesen werden, wenn es wahr sein soll.
Der Weg zum Selbstbewusstsein führt über die Selbst-Verantwortung durch die Methode des systematischen Zweifelns. Descartes betrachtet es als unabdingbare Voraussetzung, sich allen möglichen Irrtümern zu stellen und diese ausräumen, um wahr denken zu können. Selbstbewusstsein setzt Selbstversicherung voraus. An dem Verhältnis von Metaphysik und Physik zeigt Descartes auf, dass Phänomene durchaus wahr sein können, bevor sie bewiesen werden können. Richtigkeit gehört somit wesentlich zu dem, was sich als Wahrheit zu offenbaren vermag. Wahrheit wird nicht mehr durch Richtigkeit verdrängt, sondern wird durch sie zugleich auch zur Sicherheit.
wfschmid - 8. Mai, 07:03
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