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Die Geschichte beginnt in einem Kriegslazarett einige Jahre vor dieser Naturkatastrophe. In das Lazarett, das etwa hundert Kilometer vor Moskau liegt, wird an einem eisigen Wintertag ein junger, knapp über dreissig Jahre alter, schwer verwundeter Soldat eingeliefert. Ein Granatsplitter hatte ihn am Kopf getroffen und seine Augen zerstört. Obgleich er sich an der Front unvorsichtig verhalten hatte, wurde er für diese schwere Verletzung zynischerweise wegen Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet. Während seines Aufenthaltes im Kriegslazareth lernt er die junge Lazarettschwester Magdaleine aus dem Waldecker Land kennen. Die beiden verlieben sich ineinander und heiraten noch während des Krieges. Nach vergeblichen Abtreibungsversuchen gebärt sie im Singener Krankenhaus einen gesunden Jungen. Ein Jahr später folgt noch ein Mädchen. Der blinde Mann bemerkt nicht, dass seine junge Frau mit ihrem Mann und den beiden Kindern völlig überfordert ist und den Haushalt samt den beiden Geschwister verwahrlosen lässt. Um ihr Leben überhaupt noch bewältigen zu können, flüchtet sie in eine Traumwelt und spielt bei ihren Männerbekanntschaften die reiche Frau. Um sich dieses Spiel leisten zu können, ersetzt sie die Geldscheine ihres Mannes durch zurechtgeschnittene Papierblätter. Als der Sohn des Kriegsblinden für diesen Rauchwaren besorgen soll, werden ihm statt Geldscheine wertlose Papierblätter in die Hand gedrückt. Der Vater, ein Oberstleutnant, fackelt nicht lange und erstattet Anzeige. Es kommt zu einem Gerichtsverfahren, bei dem die junge Mutter schuldig gesprochen, mit Gefängnis bestraft und ein Jahr später von ihrem Mann geschieden wird.
Eine junge Hinterbliebene, deren Mann als vermisst gilt, übernimmt den Haushalt und die Erziehung der Kinder. Voller Genuss zeigt sie bei einem sonntäglichen Spaziergang in die Nordstadt den Kindern die vergitterten Fenster des Gefängnisse, hinter denen ihre Mutter angeblich ihre Strafe absitzt. Später droht sie dem kleinen Jungen, den sie nicht ausstehen kann, damit, dass er eines Tages wie seine Mutter ins Gefängnis kommen wird. Jahrelang kämpft sie vergeblich darum, dass der unfolgsame Junge in eine Erziehungsanstalt eingeliefert wird. Als sich die ersten positiven schulischen Leistungen des Jungen abzeichnen, versucht sie, ihn an seinen Hausaufgaben zu hindern, indem sie ihn nachmittags so oft wie irgendwie möglich in weit auseinander liegende Geschäfte zum Einkaufen schickt. Schließlich darf aus ihm auf keinen Fall mehr werden als auf ihrem Hugo, der keine Lehre zum Abschluss brachte und nun als Fahrer mit seinem VW Lieferwagen mit Sanella-Werbung bei einem Lebensmitellager tätig ist. Er findet seinen Job so toll, dass er den kleinen Jungen dazu überredet, ihn einen Tag auf seiner Tour über Land zu begleiten. Natürlich sagt der Junge ohne Zögern zu, zumal er Hugo gut leiden kann. Auf seiner Tour zeigt ihm Hugo, wie viele Mädchen er überall kennt. Aber den kleinen Jungen interessiert das nicht. Und was den Job angeht, so denkt er sich, dass es doch besser ist, noch zur Schule zu gehen. Diese Gedanken behält er jedoch für sich und instinktiv erzählt er auch der Haushälterin, Hugos Mutter, nichts von der Tour mit Hugo. Diese hat für ihn ohnehin schon eine Lehre in der Suppen- und Gewürzfabrik Maggi vorgesehen.
Es ist ohnehin die Zeit gekommen, sich für oder gegen eine weiterführende Schule für den Jungen zu entscheiden. Das Kriterium für diese Entscheidung besteht in dem Argument der Haushälterin, dass es nur darum gehen kann, möglichst schnell Geld zu verdienen, um möglichst bald existentiell abgesichert zu sein. Der Vater lässt sich ebenfalls davon überzeugen, zumal ihn alle Verwandten drängen, das Kind doch auf der Volksschule zu lassen und in die Hauptschule zu geben.
Während seine Freunde das Gymnasium besuchen, geht das Kind des kriegsblinden Vaters zur Volksschule. Er erinnert sich noch sehr genau an seine erste Stunde in der Hauptschule. Seine Mitschüler sind sehr aggressiv und hänseln ihn. Erst als der Lehrer die Klasse betritt, hören sie damit auf. Der Klassenlehrer aber fragt ihn scharf: "Was willst Du denn hier? Du hast hier doch überhaupt nicht zu suchen!" Nach der ersten Stunde, nimmt der Klassenlehrer den Jungen mit zur Schulleitung, um sich zu beschweren. Dort aber erfährt er, dass alles seine Ordnung hat und der Schüler ganz ordnungsgemäß in der Hauptschule für die fünfte Klasse angemeldet ist. Nach einem längeren Streitgespräch einigen sich Klassenlehrer und Schulleiter ungewöhnlicherweise darauf, den Jungen sofort in die Mittelschule, in welcher der Lehrer ebenfalls unterrichtet, zu schicken. Also nimmt ihn der Hauptschullehrer in die Mittelschule mit, in der er die anschließende Schulstunde unterrichtet. Dieser Schultyp befindet sich im selben Haus ein Stockwerk höher.
Überraschenderweise taucht der Haupt- und Mittelschullehrer nachmittags bei dem Jungen zu Hause auf, um mit seinem Vater zu sprechen und ihn um sein Einverständnis zu dem geplanten Schulwechsel zu bitten. Der Vater erklärt sich gegen den heftigen Widerstand seiner Haushälterin und selbsternannten Erzieherin des Jungen einverstanden. Also besucht der Junge weiterhin die Mittelschule.
Die existentielle Zeit erinnerbarer Ereignisse erscheint anders als die real abgelaufene Zeit. Der anerzogene Hang zur Ordnung verführt dazu, die existentielle Zeit als biografische Linie zu betrachten. Solche Rationalisierung verführt dazu, die Sprache der Seele zu überhören und die innere Stimme verstummen zu lassen. Entgegen der Stimme des Verstandes sagt die Stimme der Vernunft, der Intuition also, dass die Kindheit mit diesen letzten Volksschuljahren ihren Abschluss findet.
wfschmid - 5. Dezember, 04:13
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