Bedürfnisse

Für dieses Wort muss ich zunächst etwas tun. Ich muss es frei machen von einem 'Beigeschmack'. Die unmittelbar auftretenden Assoziationen verschieben es in die Ecke des Tabuisierten. Wer von seinen Bedürfnissen spricht, ist bei uns in der Gefahr, seltsam angeschaut zu werden. Das nicht Wahrnehmen der eigenen Bedürfnisse bewirkt den leicht verschleierten Blick.
Bedürfnisse zeigen einen Mangel an. Bin ich hungrig, dann verspüre ich die mir mangelnde Nahrung. Das Gefühl zeigt mir, dass sich ein Ungleichgewicht anbahnt. Ich brauche etwas zu essen und zu trinken. Dieses naturgegebene Hungergefühl kann ich für eine Weile unterdrücken. Ich weiss, im Augenblick gibt es keine akzeptable Lösung oder ich habe jetzt keine Zeit, keine Lust, mich mit meinen körperlichen Bedürfnissen zu beschäftigen. Andere Bedürfnisse sind gerade viel mehr bestimmend.
Die von Abraham Maslow entwickelte Bedürfnispyramide zeigt eine Rangfolge. Die grundlegenden körperlichen Bedürfnisse, die das Überleben sichern, müssen befriedigt sein, damit die 'höheren' geistig-seelischen Bedürfnisse motivierend in Erscheinung treten können. Wer seit Tagen nichts gegessen hat, ist nur unter extremen Bedingungen bereit und in der Lage, an anderes zu denken und entsprechend zu handeln wie es beispielsweise die Rettung von Menschen aus einer Notlage erfordern kann. Ein Mensch, dem es nicht gelingt, andere für sich zu gewinnen und liebevolle Zuneigung zu erfahren, kann schwer von diesem Mangel abstrahieren.
Wir kompensieren Bedürfnisse. Ein Mangel, für den es scheinbar keinen Ausgleich gibt, versuchen wir durch erfolgreiches Handeln in einem anderen Bereich auszugleichen. Wer ohne liebevolle Kontakte leben zu müssen meint, versucht vielleicht, besonders gute Leistungen zu erbringen, um in einem anderen Rahmen Anerkennung zu erlangen. Bedürfnisse werden oft verdrängt, also gar nicht wahrgenommen. Wer gelernt hat, Anstandsregeln einzuhalten und vor allem hoch zu halten, vergisst und übersieht vielleicht, dass er dabei 'Hunger' leiden kann. Es sind vor allem die nicht oder nicht mehr wahrgenommenen Bedürfnisse, die helfen zu lernen, zu wachsen, sich und die Anforderungen des Lebens besser zu verstehen.
(urs)
wfschmid - 12. Oktober, 13:12
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