Totzeit

Totzeit beschreibt die Dauer einer Grenzüberschreitung. Totzeit ist der Moment zwischen zwei Systemen: das bereits Verlassen-haben des einen Systems und das Noch-nicht-angekommen-sein im anderen System. Totzeit ist tote Zeit für beide Systeme, zwischen denen sie sich vollzieht.
Totzeiten trennen Energie und Materie, Möglichkeit und Wirklichkeit, Leben und Tod. Totzeit ist die Zeit zwischen Ja und Nein.
Die Totzeit können wir im Augenblick als Gegenwart erfahren, also als Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft. Angesichts dieser Erfahrung wird uns bewusst, dass Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zwar Zeiten sind, aber darüber hinaus wenig gemeinsam haben.
Sprüche wie "Heute ist das Morgen von gestern!" oder "Morgen ist gestern von heute!" sind nicht mehr als Wortspielereien. Die Annahme, heute das Morgen vorbereiten zu können, entspringt einem toten Winkel, einem Blickwinkel, unter dem das Leben nicht erscheint.
Der Glaube an das Vorhersehbare entspringt einer mechanisierten Auffassung vom Leben. Diese Auffassung orientiert sich allein an dem, was uns materiell erscheint. Dieser Glaube ist so stark, dass wir in der Gefahr stehen, die materielle Erscheinung mit Wirklichkeit gleichzusetzen, etwa unter dem Motto: "Wirklich ist allein das Materielle!"
Das Materielle ist plan- und programmierbar. Die Entwicklung des Materiellen ist technisch steuerbar und vorhersehbar. Techniker wissen, wann ihre Fertigung abgeschlossen ist. Naturwissenschaftler erkennen am Fortschreiten ihrer Experimente, wann sie mit deren Erfolg rechnen können. Und Medizinern trauen wir dann, wenn sie den Verlauf von Behandlungen zu prognoszieren vermögen.
Es ist keine Frage, die materielle Seite des Lebens haben wir Menschen im Griff. Aber diesen Griff beherrschen wir nicht. Das Leben erstickt uns unter diesem Griff. Wir bemerken das sehr wohl. Die Natur bricht unter dem Würgegriff der Technik zuammen. Unter dem extrem gestörten natürlichen Gleichgewicht zwischen Erde, Wasser und Luft zerfallen Lebensräume und vernichten jene Lebewesen, die in ihnen zu Hause sind.
Der Irrglaube, alles im Griff zu haben, lebt von der Verdrängung des Lebens. Wir leben nicht mehr, sondern wir vegetieren dahin, indem wir uns von einem Fortschritt zum nächsten konstruieren. Nicht der Wert des Lebens bestimmt uns maßgeblich, sondern der Gewinn, den unser Fortschreiten einbringt. Das Fort-Schreiten aus der Mitte des Lebens ist zur gesellschaftlich anerkannten Selbst-Entfremdung geworden.
Das Weglaufen vor sich selbst fällt spätestens dann auf, wenn wir uns auf einer nicht mehr abgesicherten Strecke fortbewegen. Die Unfallgefahr ist gewachsen, weil Mittel- und Leitlinienmarkierungen fehlen. Angesichts ausbleibender Wegmarken in den Abständen von Totzeiten rennen wir nur noch blind gerade aus. Augenblickliche Entscheidungen werden nicht mehr gefällt.
Zeit, innezuhalten!
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wfschmid - 5. November, 17:11
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