Neuronale Textanalyse
Wort II
Wir haben erfahren, dass ein Gedanke intuitiv, also gefühlsmäßig oder bedürfnisorientiert erzeugt und durch Formulierung eines Satzes ins Bild gesetzt wird. Ein Gedanke, zu dem der Leser oder Hörer kein Bild hat, ist leer und somit als Gedanke unbrauchbar.
Jedoch auch geschriebene oder ausgesprochene Gedanken müssen nicht echt, also gleichzeitig während der Entstehung eines Textes erzeugt worden sein. Sätze lassen sich auch gedankenlos formulieren, nämlich dann, wenn sie bloß wiedergekäut werden. Allerdings lässt sich einem Text ansehen, wie gründlich durchdacht er erzeugt worden ist.
Je tiefer sich Denken vollzieht, desto seltener begnügt es sich mit einem Satz.
Die Verbindlichkeit oder Reichweite eines Gedankens lässt sich innerhalb eines Textes sehr leicht an den Beziehungen zwischen den Sätzen erkennen. Diese Beziehungen können formaler oder inhaltlicher Art sein. Formale Beziehungen beruhen auf alphanumerischen Übereinstimmungen. Inhaltliche Übereinstimmungen beruhen dagegen auf identischen, gleichen, ähnlichen oder gegensätzlichen Bezeichnungen.
„Sommer“ und „Sommersonnenschein“ stimmen alphanumerisch überein. „Sommer“ und „summer“ sind identische Bezeichnungen. „Sommer“ und „wärmste Jahreszeit“ sind gleiche Bezeichnungen. „Sommer“ und „1. Juni- 31. August (meteorologisch)” sind ähnliche Bezeichnungen. Und schließlich sind “Sommer” und “Winter” gegensätzliche Bezeichnungen.
Obleich auch die Wortstellung eine wesentliche Rolle bei der Inszenierung innerer Bilder spielt, ist sie hernach für die Verbindlichkeit von Gedanken nicht aussagekräftig.
Zwei Sätze, zwei Szenen:
A) Der Hund im Hof betrachtet den Nachbarn des Bauern.
B) Der Nachbar des Bauern betrachtet den Hund im Hof.
Die beiden Sätze unterscheiden sich nicht in der Wortwahl, sondern nur in der Stellung. Als Initiatoren einer Kriminalgeeschichte zeichnen sie unterschiedliche Verhaltenweisen.
Was aber leitet Wörter an, sich in einem Augenblick so aufzustellen und in einem Augenblick anders? Ist es das sich spontan gestaltende Bild eines Gedankens, der nur kurz im Strom des Bewusstwerdens verweilt, um dann wieder einem möglichen sprachlichen Zugriff zu entschwinden? Und wer oder was zeugt zuvor diesen Gedanken? Warum betrachtet einmal der Hund den Nachbarn des Bauern und warum ist es ein anderes Mal gerade umgekehrt? Welche Gefahr, die der Wachhund wohl instinktiv spürt, droht dem Gehöft? Und was hat der Nachbar vor, der den Hund im Blick behält, um sich ungestört vom Gebell des Wachtieres anschleichen zu können? Und welchen Groll hegt die bilderlebende Seele des Autors, dass sie den Nachbarn sogar zum Kriminellen macht?
Gerade die letzte Frage deutet darauf hin, dass Worte aus der Seele kommen können, also möglicherweise zufällig von momentanen Gefühlen aktiviert oder von Bedürfnissen angetrieben werden. Tatsächlich verstehen sich Worte von sich her als Zeichen, deren Aufgabe es ist zu zeigen. Worte sind Zeichen, die durch Bilder u.a. auf Stimmungen oder Einstellungen zeigen. Aber in dieser Aufgabe sind sie höchst selten unterwegs. Im Alltag begnügen sie sich damit, ihre Bilder als Abbildungen von Personen, Tieren oder Dingen zu verwirklichen. Im spannungslosen Alltag ist der Hund nur der Wachhund auf dem Hof. Und der Nachbar hat einen bürgerlichen Namen und ist meistens in jeder Hinsicht harmlos. Er macht seine alltäglichen Besorgungen und ist ein guter Bekannter des Bauern. Im Alltag begnügen sich die Worte damit, sich auf ihre ihnen zugewiesene Aufgabe zu bschränken. Das Zeigen beschränkt sich auf das Vergegenwärtigen des Erinnerns in Bildern.
Die Auskunft der Worte fällt dann dementsprechend trivial aus, wenn sie erklären, dass sie in ihrer Eigenschaft als Nomen lediglich entweder zielstrebig selbständig (direkt) oder von einer Beziehung abhängig als (indirekte) Objekte unterwegs sind. Da werden sie dann als Namen von Personen, Orten, Dingen oder sogar von Ideen angetroffen.
Als Nomen jedenfalls spielen Wörter beim Schreiben oder Sprechen die wichtigste Rolle.
Wenn wir sie bei diesem Geschäft beobachten, dann können wir feststellen, dass sie sich als Mitglieder oder Angehörige bestimmter Grupen betrachten, als Namen oder Eigennamen, als Abstrakta oder Konkreta, als Vertreter von Gruppen oder Kollektiven oder in enger Verbindung mit einem anderen Wort als Wort-Zusammensetzungen.
Auf die Frage, wo wir denn Worte finden, die nicht als Objekte, sondern als Subjekte unterwegs sind, erhalten wir die etwas ausweichende Gegenfrage: „Wo in der Welt kann man denn irgendwo irgendeine Sprache finden, in der Wörter nicht zuallererst als Objekte unterwegs sind?“ Zugegeben, wir haben entweder zu wenig oder zu viel bei unserer Beobachtung nachgedacht. In jedem Fall waren wir bereits in Gefahr, Kleinigkeiten bei unseren gegenwärtigen Betrachtungen zu übersehen, weil wir bereits nach Subjekten Ausschau hielten. Ja, tatsächlich nennt das Kleinkind zuerst Objekte und meint das auch so, wenn es „Mama“ oder „Papa“ sagt. Selbst die Einjährigen benutzen Objekte und sagen beispielsweise „Ulrike Wauwau!“. Aber bereits in der Stellung der Worte ahnen sie im Wort dessen Stellung als Subjekt. Es ist Ulrike, die einen Hund sieht bzw. anfassen will. Es benutzt „Ulrike“ breits als Eigennamen und „Wauwau“ schon als Vertreter der Tiergruppe ‚Hunde’. Es hat sich also zu diesem Lebenszeitpunkt grammatisch sehr viel getan.
wfschmid - 30. August, 05:25
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