Unilogo

8
Okt
2011

43 Jahr später

 
Vor 43 Jahren schloss ich mein erstes Manus­kript zu dem Buch “Totzeit” ab. Dieses Buch endet mit der Frage nach der Möglichkeit, ob die menschliche Sprache von sich her überhaupt in der Lage ist, göttlichen Worten zu genügen. Diese Frage soll nun hier noch einmal aufgenommen werden.

Ein Text dokumentiert das Denken seines Autors. Einen Text analysieren bedeutet, das dokumentierte Denken in seine Gedanken auflösen, um dem Weg folgen zu können, der zu diesem Text geführt hat.
Im Nachvollziehen des in einem Text dokumentierten Denkens wird dieses in seiner Enstehung erlebt und so erst als Geschichte verstanden.

Die Geschichte bzw. das Geschehen des Denkens vollzieht sich als erlebte Geschichte. Denken bedeutet Bilderleben im zweifachen Sinn als Bilder-Leben und Bild-Erleben.
Während die Bilder der Fantasie bewusst werden, werden sie wahrgenommen, betrachtet und beobachtet.

Das Bilderleben wird als Geschichte von Bildern bewusst, also in eine Abfolge einzelner Bilder aufgelöst, da das Bewusstsein nur Momente zu erfassen vermag, nicht aber den gesamten Prozess.

Die Sprache repräsentiert durch die verschiedenen Wortarten diesen Auflösungsprozess.

Würden wir nur in Verben reden müssen, könnten wir vielleicht auch Prozesse wiedergeben. Aber so ist nun einmal unser Bewusstsein als jeweiliges Moment des Bewusstseins nicht angelegt. Unser Gehirn löst das Werden in Entstehen, Sein und Vergehen auf, wobei es doch schon beim Sein in Schwierigkeiten gerät. Angesichts des Seins als Zugleich von Entstehen und Vergehen in eins zugleich erfindet es für uns den Augenblick.

Weil aber ein Augenblick für uns keine Zeit hat, ist er nie für uns wirklich da. Bevor wir nämlich “Jetzt!” ausgesprochen haben, ist dieser Augenblick schon ‘längst’ vorbei. Das Gehirn spiegelt uns den Augenblick vor, um uns vorzumachen, dass wir da sind. Die Gegenwart ist die neuronal und existentiell notwendige Totzeit (Spungfunktion) von Vergangenheit zur Zukunft. “Alles ist im Fluss” sagt der griechische Philosoph Heraklit und fügt erklärend hinzu: “Wir können nicht zweimal in denselben Fluss steigen!” Weil aber der Mensch ohne Bleibe nicht zu existieren vermag, täuscht ihn sein Gehirn durch die Einrichtung des Augenblicks.

Auf diese Weise vermag er paradoxerweise das Werden bzw. die Zeit als Sein bzw. als Dasein zu erfahren und sich in einem virtuellen Raum einzurichten.

Mit der Entdeckung der Schrift entwickelt er sogar den Glauben, etwas festhalten zu können. Durch Schriftstücke werden Erlebnisse sogar wiederholbar und mitteilbar.

Während der Abfassung eines Textes entdeckt das Gehirn ‘Augenblicke’, die es versprachlicht, bevor sie wieder vergessen werden.

Entsprechen diese im Text dokumentierten Erfindungen aber auch wenigstens in irgendeiner Weise dem Geschehen während der Abfassung eines Textes?
Eine andere Frage ist die, ob wir in der Lage sind, Texte überhaupt zu verstehen.
Diese Frage ergibt sich aus den Feststellungen von Unterschieden:

>> Das Bilderleben des Autors ist nicht das Bilderleben des Lesers.

>> Das Bild-Erleben des Autors ist nicht das Bild-Erleben des Lesers.

>> Die Erfahrungen des Autos sind nicht die Erfahrungen des Lesers.

Dass ein künstlerischer Text überhaupt verstanden wird, liegt daran, dass der Leser daraus seine eigene Geschichte gestaltet. Die Worte des Autors liefern dazu dem Leser entsprechenden Anregungen.

Besonders interessant wird das bei solchen gewichtigen Werken wie die Bibel, von der die Gläubigen sagen, dass sie das Wort Gottes ist.

Unabhängig vom Glauben stellt sich die Frage, ob angesichts der Bewusstseinskonstellation des Menschen Gott überhaupt in der Lage sein kann, sich durch einen Text unverfälscht bzw. nicht verfremdet mitzuteilen.

Ist es nicht eine maßlose Hybris von Menschen, die von sich her behaupten, das Wort Gottes verstehen und verkünden zu können?
Welchen Sinn macht nun eine Text-Analyse und existiert eine Methode, die Schranken aufgrund unterschiedlichen Bilderlebens und verschiedener Erfahrungen zu öffnen?
 

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Prof. Dr. habil Wolfgang F Schmid

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