Unilogo

22
Okt
2011

Selbst-Betrug

 
Aus Rücksicht auf die Furcht der Definition vor Doxa hat sich die Vernunft allein auf den Weg gemacht. Sie folgt einer Wegbeschreibung, die sie erworben hat, bevor sie die Grenze zwischen den neuronalen Gebie­ten des Wissens und Nicht-Wissens überschritt. Seit ihrem Grenzübertritt muss sie sich schwebend fortbewegen, da es hier nirgendwo befestigte Wege oder festen Grund gibt. Sie wird von dem Wunsch getragen, endlich die andere Seite des Verstandes kennenzulernen, wohl ahnend, dass das mehr mit ihr zu tun haben könnte als sie sich einzugestehen traut.

Während sich die Vernunft vorsichtig durch die enge Spalte zwischen Sein und Nicht-Sein bewegt, muss sie einige Überfälle von Stimmungskillern überstehen. Die Vernunft benutzt ihre positiv geladene Einstellung und wehrt damit die Angreifer erfolgreich ab.

Am Ende des Spalts erblickt die Vernunft den Widerschein schwarzen Lichts. Das müsste die Gegend sein, in der Doxa wohnt, mutmaßt sie. Die Vernunft beschließt, noch vorsichtiger vorzugehen. Ihre Emotion verfügt noch über hinreichend Energie, um durchzuhalten. Nach einiger Zeit erreicht sie einen Ort namens Pse­ma[1]. Kurz hinter dem Ortseingang entdeckt sie eine Reha-Klinik, in der verlorene Sätze therapiert werden. Die Vernunft beobachtet, wie ein Satz dadurch ensteht, dass die Schwingung eines Impulses ein Neuron akti­viert, wobei der Impuls Subjekt, die Schwingung Prädikat und die Erregung Objekt des Satzes genannt wird.

“Aha, die Strecken, welche ich zurücklege, sind also in Wahrheit Sätze, die ich denke! Demnach brauche ich nur noch einen geeigneten Satz, um Doxa zu begegnen”, freut sich die Vernunft.

Kaum hat sie diesen Gedanken gefasst, da erscheint ihr die Gestalt der Doxa. Die Vernunft ist erstaunt, weil Doxa keineswegs hässlich ist wie man sich überall erzählt, sondern vielmehr sehr schön. Und vor allem hat sie eine sehr freundliche Ausstrahlung. Die Vernunft fühlt sich sofort mit Doxa gefühlsmäßig verbunden. Jetzt stellt sich Doxa der Vernunft vor, indem sie zu ihr sagt: “Ich bin Dein Spiegel, denn die Wahrheit der Vernunft ist eine Lüge!”

Trotz der empfundenen Seelenverwandtschaft erschrickt die Vernunft, fasst sich aber und fragt Doxa dann, wer ihr eigentlich diesen merkwürdigen Namen gegeben habe. Doxa erklärt ärgerlich, dass dies die Wissenschaft war, die jede Art und Weise des Glaubens strikt ablehnt. Die Vernunft ergänzt das, indem sie er­klärt, dass Wissenschaft nichts Anderes als Glaube ist, der seinen Ursprung doch in den Glaubenssätzen der Axiome hat. Und erst durch das Objektivierungs­bemühen und die Übertragung an die Technik ist es ihr gelungen, Menschen mit ihren Erkenntnissen wirklich zu überzeugen.

Doxa tut die Äußerung der Vernunft sichtlich gut. Spontan entscheiden sich beide für einen gemeinsamen Besuch im axiomatischen Museum.

______
[1] ψέμα bedeutet Lüge
 

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Prof. Dr. habil Wolfgang F Schmid

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