Καιρός

Καιρός, der günstige Zeitpunkt[1] ist die Utopie des Jetzt, ein für das vernunftbegabte Lebewesen unerreichbarer Ort.
Hinter dem Horizont[2] aber entfaltet sich dieser Ort zur Allgegenwart. Das Werden, das als Sein erfahren wird, ist die Materie allgegenwärtiger Energie. Für ein raumzeitliches Wesen ist die universelle Gleichzeitigkeit unvorstellbar. Erst die vollkommene Raum- und Zeit-Ungebundenheit macht es möglich, alles gleichzeitig überall zu erfahren.
Im Καιρός als Augenblick der Gleichzeitigkeit von Verstand und Vernunft wird die Suche gleichzeitig zur Entdeckung. Die Zwiespältigkeit von Bilder-Leben und Bild-Erleben ist aufgelöst, und das Denken vollzieht sich als Strom des Bilderlebens.
So wird verständlich, dass für die Vernunft die Anstrengungen hinter dem Horizont ihre Kräfte übersteigen. Zu sehr ist sie gewohnt, Zeit für etwas zu haben, um es erfahren zu können. So verharrt sie regungslos höchst erregt im Καιρός, in der Hoffnung auf irgendetwas Haltbares. Bar jeglicher Zukunft wird ihr natürlich gleichzeitig bewusst, dass alle Hoffnungen nichts als Selbst-Täuschungen sind.
Die Vernunft befindet sich gleichsam in Ekstase.[3] In dieser Verfassung hat sich der Verstand emotional aufgelöst. In diesem Zustand vermag die Vernunft vor dem Horizont hinter den Horizont zu schauen.
Plötzlich vernimmt die Vernunft eine Stimme aus einem brennenden Dornbusch. Spontan denkt die Vernunft an einen Scherz des Verstandes, der das Spiel der inneren Bilder durch diesen Schein unterbricht.
Die Vernunft schreckt aus ihren Grübeleien auf, da ihr diese Stimme sehr energisch sagt, dass sie Moses durch einen solchen Lichtblick immerhin noch dazu verführen konnte, fantastische Bücher über sie zu schreiben, an deren Inhalte immer noch alle Welt glaubt.
Die Vernunft wendet ein, dass sie dieser Legende noch nie geglaubt habe. Sogleich verflüchtigt sich der brennende Dornbusch wieder.
Die Stimme aber betont sehr nachdrücklich, dass niemand einen Propheten brauche, wenn er nur sein Innenohr öffnet und auf die Offenbarungen der inneren Stimme hört.
Die Vernunft betont, dass sie von ihrer Stimme noch nie etwas über Gott erfahren habe. Die Stimme des Dornbusches verwundert das nicht. Sie beklagt sich vielmehr darüber, dass es vollkommen überzogen sei, die Energie als Gott[4] anzubeten und sich alle möglichen und unmöglichen Geschichten auszudenken.
In der Tat konnte die Vernunft hinter dem Horizont bislang auch nicht die geringste Spur eines Gottes entdecken. Zugleich beweist sich aber, dass auch die geistige Energie hinter dem Horizont erhalten bleibt, denn ansonsten könnte die Vernunft die Grenzüberschreitung ja nicht überleben.
Allerdings vermag sie zwischen “vor dem Horizont” und “hinter dem Horizont” in Wahrheit nicht zu unterscheiden. In beiden Bereichen erscheint sie als paradoxerweise unsichtbare Erscheinung nicht. Es lässt sich einzig und allein denkend erfahren, dass sie existiert.
Im Augenblick dieser Ein-Sicht findet sich die Vernunft im ursprünglichen Raum des Museums wieder. Freundlich wird sie von der Idee des Guten gefragt, ob ihr dieser Lichtblick hinter den Horizont geholfen habe.
Die Vernunft nickt: “Ich glaube, es existiert hier im Museum ein Bild über meine dortige Erfahrung. Ah, ich habe es schon entdeckt!” Die Idee und die Vernunft gehen zu dem Werk “Wiederkehr des Gleichen”:
Die Idee meint, dass nach ihrer Ansicht die Welten jenseits und diesseits durch die Seele verbunden bleiben. Deshalb hat die Seele das Vermögen, zwischen diesen Welten zu wechseln, sowohl gefühls- als auch verstandesmäßig.
Die Vernunft bezweifelt allerdings diese Sicht, empfindet sie aber dennoch als zauberhafte, tröstliche Vision. Die Idee einer Wechsel-beziehung zwischen den beiden Seiten der Horizontlinie lässt die Vernunft sich fragen, aus welchem Grund das vernunftbegabte Wesen so inständig nach einem Überleben des Todes fragt.
In diesem Augenblick umgibt die Vernunft ein sich um sie drehender bläulich-weißer Lichtkreis. Im Zentrum dieses Kreises schaut sie goldenes Licht, aus dem die Worte fließen:
_______
[1] Καιρός, der günstige Zeitpunkt, wird in der griechischen Mythologie als Gottheit personifiziert.
[2] Der Horizont (griech. ορίζοντας „der Gesichtskreis“, vgl. auch griech. "horizein" = begrenzen) ist eine Grenzlinie.
[3] Ekstase v. griech. έκστασις, ékstasis = das Außersichgeraten, die Verzückung; von εξíστασθαι.
[4] Bereits in der griechischen Mythologie wurden schwer erklärbare physikalische Phänomene als Götter angebetet.
wfschmid - 5. November, 05:30
0 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
Trackback URL:
https://wolfgangschmid.twoday.net/stories/49603201/modTrackback