Nachspiel

Die Katharsis vollzieht der Verstand durch Loslassen seiner paradoxen Ansprüche an die Vernunft. Er begreift nunmehr Existenz als Kunstform der Vernunft. Als eine Gestalt dieser Kunstform erscheint die Wissenschaft vielen so echt, dass sie deren virtuellen Charakter sogar übersehen.
Wissenschaftler glauben so fest an Axiome wie Gläubige an Dogmen. Axiome sind leztlich für den Verstand so unzugänglich wie Dogmen.
Glaubenssätze der Vernunft (Axiome[1]) gelten als wahr, da sie offenbar keines Beweises durch den Verstand bedürfen. Auf solchen neuronal durchaus strittigen Grundsätzen gründet die vernünftige Welt. Es fällt dem Verstand außerordentlich schwer, solche angeblich unmittelbar einleuchtenden Prinzipien anzuerkennen. So verwundert es kaum, dass es im Grenzgebiet zu Rechtsstreitigkeiten kommt. Nach intensiver Suche entscheiden sich Vernunft und Verstand für die Wahrheit als richterliche Instanz.
Diese aber lehnt ab, da sie sich weder von Vernunft noch Verstand unabhängig fühlt. Sie erklärt, dass sie lediglich der Vorschein deren Fühlens und Denkens sein kann. Vernunft und Verstand sind ob solcher Offenbarung sehr erstaunt, geht ihnen doch damit der Anspruch auf Gewissheit verloren. Woher sollen sie denn eigentlich Gewissheit nehmen, wenn nicht von der Wahrheit? Dann könnnen sie sich ja gleich mit dem Zweifel zusammentun! Um weitere Aggressionnen zu vermeiden, unternimmt die Warheit den Versuch, den beiden ihre Schwierigkeiten zu erklären.
Für die Vernunft ist etwas dann offensichtlich, wenn A als Gegenstand oder Erscheinung (Phänomen) mit A als Inhalt einer Aussage völlig übereinstimmt, also beide ununterscheidbar sind. Sie beruft sich dabei auf den Satz der Identität A = A.
Dem Verstand erscheint dagegen der Glaube an die Identität solange als unzureichend wie die Ununterscheidbarkeit identischer Dinge nicht bewiesen werden kann. Aus diesem Grund können bloße Aussagen über etwas schon deshalb niemals wahr sein, weil es sich um unterschiedliche Qualitäten, nämlich objektiv und subjektiv bzw. sinnlich und geistig handelt.
Für ihn vermag die Vernunft deshalb auch kein rein geistig existierendes Wesen als offenkundig oder gar wahr zu erkennen, weil schon deren Empfindungen und Erfahrungen aufgrund ihres sinnenfälligen Bezugs von unterschiedlicher, also ungleicher Substanz sind. Die Entitäten sind unvergleichbr, denn das rein Geistige befindet sich außerhalb der Erfahrung (a priori). So ist eine Vision der Vernunft von etwas a priori in sich vollkommen widersprüchlich. “Es wäre gerade so, wie wenn ein Mensch einen vorweg als unbegreiflich erklärten Gott begreifen wollte!”
Die Vernunft beklagt sich über diese Überheblichkeit und setzt dagegen: “Glauben ist nicht vom Begreifen abhängig! Zudem vermag der Verstand als Kind der Vernunft an die Wissenschaft auch nur zu glauben!”
Die Wahrheit stimmt der Vernunft zu und betont, dass Glauben in der Tat das Höchstmaß an Orientierung sei, das ein vernunftbegabtes Wesen erreichen kann.
Der Verstand möchte gern wissen, wodurch sich religiöser und wissenschaftlicher Glaube unterscheiden. Die Wahrheit antwortet: “Der religiöse Glaube beruht auf geistiger Information, der sinnliche Glaube dagegen auf sinnlicher Information."
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[1]ἀξιώματα axiómata
wfschmid - 25. November, 05:15
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