Wider Erwarten
Der Verstand überrascht die Vernunft tatsächlich mit dem angekündigten Vorschlag. Und sie ist noch mehr überrascht, als er ihr darstellt, dass es sich um Mystik handelt. Die Vernunft fragt natürlich nach, wie er ausgerechnet auf Mystik kommt. “Im Gegensatz zu Dir bin ich auf Beständiges oder Bleibendes angewiesen. Ich brauche etwas, an das ich mich halten kann! Bei aller Freiheit und Spontanität, ich kann mit ständiger Veränderung nicht so gut umgehen wie Du. Und da habe ich entdeckt, dass das Denken von Anfang an in die verkehrte Richtung schaut: nach außen statt nach innen! Die Wahrheit verbirgt sich in unserer Innenwelt und nicht in der Außenwelt. Und dieses Geheimnis nenne ich Mystik[1]!” Die Vernunft empfindet Freude über das, was der Verstand ihr sagt, denn die Innenwelt steht auch ihr offen.
Also entschließen sich Vernunft und Verstand zu einer zweiten Reise. Dieses Mal wird diese Reise aber nicht hinter den Horizont führen, sondern in die Tiefen des Bewusstseins. Als Beförderungsmittel wählen sie wiederum die Introspektion. Und wiederum wählen sie als Weg die Konzentration.
Rechtzeitig vor Reiseantritt haben sie sich um einen geeigneten Navigator gekümmert. Dieser Navigator soll sie sicher durch das Lichtermeer aus Milliarden von Neuronen, die durch elektrische Impulse miteinander verbunden sind, führen. Die Kombinationen von Millionen von Neuronen, die gleichzeitig Signale senden, produzieren eine große Menge elektrischer Aktivität, um Vernunft und Verstand flüchtige neuronale Wege zu ermöglichen. In der Fahrschule haben die beiden Gehirnwellenmuster zu erkennen gelernt, das sind Ansammlungen von elektrischer Energie, welche sich zu zyklischen, wellenförmigen Bildern gestalten. Es kostete sie sehr viel Zeit, diese als Bilder oder Vorstellungen von Gedanken schauen zu lernen. Selbstverständlich verändern sich diese Bilder durch das Denken.
Die große Schwierigkeit für Vernunft und Verstand ergibt sich nicht nur aus der extremen Kurzlebigkeit neuronaler Situationen in der Lichterwelt, sondern zugleich aus den großen Unterschieden zwischen Tag und Nacht. Deshalb legt der Navigator der Vernunft und dem Verstand nahe, sich für das Reisen entweder untertags oder nachts zu entscheiden.
Auf Nachfrage rät er ihnen jedoch, nachts zu reisen, da dies für Anfänger sehr viel einfacher ist. Vernunft und Verstand folgen der Empfehlung des Navigators und entscheiden sich, zur Delta-Zeit aufzubrechen.
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[1]μυστικός mystikós „geheimnisvoll“
wfschmid - 28. November, 05:10
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