Lichtung

© urs
Als baumfreie Fläche inmitten eines Waldes ist die Lichtung hier ein Bild für eine offene Stelle[1] im Denken. Der Fülle des Bilderlebens entnommene Bild-Erlebnisse werden in einem zeitlich und räumlich begrenzten Erfahrungsraum belichtet. Bilderleben braucht die richtige Umgebung, die rechte Zeit und den geeigneten Ort, um einsichtige Bilder freigeben zu können. Einsicht ist immer von der augenblicklichen Umgebung des Denkens abhängig. Diese schafft erst die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Einsicht ist die jeweilige Lichtung inmitten des Dunkels gewachsener unbewusster und vorbewusster Erfahrungen, ein lichter Augenblick des Bewusstwerdens, in dem sich ein beeindruckendes Bild zeigt und Erkennen schenkt. Die Lebensumstände prägen das Hervorscheinen helfender Bilder. Der Anfang eines Wesens ist der maßgeblich bestimmende Beginn seines Werdens und dessen vorbestimmtes Ende. Im Anfang jeweiligen Werdens wird das Geschick des einzelnen insofern geboren, da sich das Gehirn nur innerhalb dessen entwickeln kann, was ihm von Zuhause vorgegeben ist. Insofern fällt kein Apfel weit vom Stamm und Vieles von dem, was ein Wesen für selbst verschuldet hält, ist in Wahrheit das, was ihm mit auf den Weg gegeben ist. Aber wir haben eine Wegbegleiterin, die uns unsere Welt verstehen lässt, ohne dass wir dazu irgendwelche Propheten oder Gottheiten brauchen. Diese Wegbegleiterin, welche uns die Phänomene offenbart und uns Zusammenhänge erkennen lässt, ist die Vernunft. Die Vernunft nimmt uns die Arbeit des Erkennens nicht ab, sondern bereitet sie vor, indem sie uns ins Fragen schickt.Es sind nicht nur die vordergründigen Fragen des Wer?, Was?, Wann?, Wo? und Wie?, sondern jene hintergründigen Fragen, die uns nach dem Warum?, Wozu? bzw. Weshalb?, Wofür? und Wobei? suchen lassen. Die Fragen sind Nahrung unseres Geistes, der unaufhaltsam weiter drängt.
Fragen wird aus dem Staunen geboren. Es geht um Klären des Vorgefundenen. Das geht nicht ganz ohne Schmerzen des “Zu spät” ab, denn verstehen lässt sich immer nur rückwärts, eine schmerzliche Erfahrung des vorwärtsgerichteten Geistes. Aber um die Wirklichkeit erkennen zu können, muss man vorweg deren Möglichkeiten kennen. Es ist immer schon alles da, und kein Gedanke vermag es zu wagen, sich als originell zu empfinden. Es ist nur die eigene Sicht, durch die in einer Welt der Wiederholung des immer Gleichen etwas unversehens anders und möglicherweise als neu erscheint.
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann “neu” lediglich als “erneut” erscheint. Aber wer findet sich schon damit ab, immer ein zu spät Gekommener zu sein. Dem Staunen über das schon Dasein bleibt immer nur das Ergründen. Der Fortschritt wächst mit dem Rückschritt in den eigenen Ursprung und vor allem den der Welt. Die Zukunft eines notwenigerweise rückwärtsgewandten Wesens liegt in seiner Vergangenheit, denn es versteht den Anfang zugleich als Beginn des Endes.
Reicht als Mittel zu diesem Zweck das Sichtbare nicht aus, wird gar das Unsichtbare gewagt. Den Anfang dieses Wagnisses machen Leukipp und Demokrit, indem sie angesichts ihres Unbehagens an den Erklärungen des Sichtbaren das für sie noch unsichtbare Atomos, das Unteilbare, ins Spiel bringen und damit das unaufhörliche Suchen nach den unteilbaren Teilchen, nach den allerletzten Teilchen in Gang setzen. Und damit hat die suchende Vernunft für 2.300 Jahre und noch über heute hinaus ihr Programm. Es geht darum, von den Molekülen zu den Atomen, von den Atomen zu den Kernen, von den Kernen zu den Elementarteilchen zu kommen, vielleicht um noch zu den elementarsten Elementarteilchen wie das Herm zu gelangen. Mit Hilfe großer Elementarteilchen-Beschleuniger sollen die letzten Bausteine, aus denen Materie bestehen kann, entdeckt werden, falls es da überhaupt eine Grenze gibt. Und je mehr sich die Physik dieser Entdeckung nähert, desto dichter kommt sie an ihren Ursprung heran, das ist die Metaphysik. Und schließlich die alte Frage des Aristoteles: Warum ist da überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Es muss doch für alles einen Grund geben!
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[1] Zu dem dem Denken Heideggers entlehnten Begriff der Lichtung vgl. Rafael Capurro: Matin Heidegger, Ausgewählte Werke, Zuerst erschienen in: F. Volpi, J. Nida-Rümelin, Hrsg.: Lexikon der Philosophischen Werke. Stuttgart: Kröner, 1988. Zu M. Heidegger vgl.: Martin Heidegger (1889-1976)
wfschmid - 28. Dezember, 05:15
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