Infarkt im Kopf

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Im Gegensatz zum körperlichen Schlaganfall ist der geistige Schlaganfall kaum bekannt, obgleich er weitaus häufiger vorkommt. Schätzungsweise erleiden etwa zwei Drittel der Bevölkerung während ihrer ersten Lebensjahre einen geistigen Schlaganfall. Der geistige Schlaganfall bzw. Neuroinfarkt wird in der Regel nicht bemerkt. Dabei verändert er wie der körperliche Schlaganfall das Leben grundlegend, und zwar dadurch, dass die Fantasie abstirbt bzw. ausfällt.Der Neuroinfarkt wird am häufigsten verursacht durch einen völlig falschen Umgang mit dem Gehirn vor allem in den ersten zehn Lebensjahren und zwar durch verantwortungslose Vernachlässigung der Fantasie durch das Elternhaus und vor allem durch die Schule.
Bei dem kleinen Wesen, das wir bereits von seiner Begegnung mit der Lichtgestalt kennen, wird dieser neuronale Zusammenbruch durch glückliche Umstände verhindert.
In den ersten Bildern, welche dessen Fantasie erfährt, herrscht überall Chaos und Zerstörung. Der große Krieg ist gerade erst zu Ende, und in den wenigen Tagen des Friedens konnte noch niemand irgendeine Möglichkeit finden, sich wieder zu orientieren.
Die kleinen Wesen wurden zumeist entweder ohne Väter oder mit kriegsbeschädigten Vätern in die Trümmerfelder hineingeboren, um inmitten der Trümmer unterernährt aufzuwachsen. Inmitten der Armut an Spielzeug und Spielmöglichkeiten entsteht für die Fantasie ein ausgezeichneter Nährboden, um sich entwickeln zu können. Vor lauter Scham sind die Eltern sehr darauf bedacht, ihre kleinen Wesen möglichst wenig von der kriegsbedingten Not spüren zu lassen.
Wenn aber die große Welt gefühlsmäßig nicht befriedigt, ist die Fantasie in der Lage, sich darin eine kleine, in sich abgeschlossene Welt einzurichten. Für den Augenblick kann dies die kleine selbtgebaute Spielwelt eines Bauernhauses aus Bauklötzchen sein. Die Fantasie ist nicht festgelegt. Sobald das Verweilen auf dem Bauernhof nicht mehr befriedigt, kann daraus blitzartig eine bedrohte Ranch im Wilden Westen werden. Und Klötzchen, die eben noch als Bäume um den Bauernhof standen, setzen sich plötzlich in Bewegung, um als Cowboys die Ranch zu verteidigen. Die Bedrohung der Ranch wird umso größer, je mehr der Unfrieden in der Familie des spielenden Kindes wächst. Wird das Kind aus dem Spiel gerissen, um im Tante Emma Laden noch schnell das zu besorgen, was beim Einkauf vergessen wurde, dann setzt die Fantasie das Spiel fort und lässt das Kind als Cowboy oder Rancher zum Lebensmittelgeschäft reiten. Dort bedauert vielleicht eine Verkäuferin den kleinen Jungen, der sich etwas breitbeinig bewegt. Schließlich kann sie ja nicht ahnen, dass der Grund für die merkwürdige Bewegung nicht an der vollen Hose liegt, sondern an dem langen Ritt, den der Rancher hinter sich hat. Alles, was sich unterwegs nicht in die Welt des Wilden Westens integrieren lässt, wird vernachlässigt. Möglicherweise wird der einsame Reiter auf seinem Weg zurück zur Ranch dann nicht durch einen Banditen bedroht, sondern durch eine Kutsche, die ihn beinahe anfährt, weil er unaufmerksam war und den schwarzen BMW übersehen hat. Aber alles geht gut und der Rancher kehrt wohlbehalten zu seiner Ranch zurück.
Ist das Spiel intensiv genug und die Fantasie entsprechend gefesselt, dann setzt es sich sogar beim Abendbrot fort und endet erst später mit dem Einschlafen. Und es stört die Lichtgestalt wenig, plötzlich als Sheriff verpflichtet und Begleiterin gewesen zu sein.
Morgens bricht dann die reale Welt erneut so abrupt herein, dass der Fantasie keine Zeit bleibt, sich zu verabschieden. Und so verbirgt sich die Fantasie im Alltag in Tagträumen oder hinter Rollen, die tagsüber durchgespielt werden. Einige dieser Rollen vermag sie mit der Zeit mit Hilfe der Vernunft und des Verstandes in konkrete Visionen, Projektionen und Projekte umzuwandeln. Kaum zu überwindende Schwierigkeiten ergeben sich allerdings dann, wenn an besonders fantasiebegabten Wesen Utopien der Fantasie gar nicht erkannt werden, weil die eigene Fantasie von ihrer missbrauchten Vernunft und vergewaltigtem Verstand so gewürgt wird, dass vor lauter Atemnot die Kraft schwindet, um eine ideale Utopie noch als eine möglich reale erkennen zu können.
wfschmid - 16. Januar, 05:05
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