Lehrbuch-Entwurf
Naturalgebra
Bewusstwerden
Noch während ich erwache schwindet der Sinn des schönen Traumes und weicht schon einer bereits schwächelnden Frage, die ihn zurückzurufen versucht. Zu spät. Ich kann diesen Schwund nicht aufhalten.
Ich weiß nun nicht mehr, wonach ich eigentlich frage. Ich weiß gerade noch, dass ich frage und dass ich nach etwas frage, das ich geträumt habe und zurückholen möchte. Schließlich vergesse ich auch das, und mein Fragen gibt sich mit Bedauern auf.
Ich weiß, dass mir etwas entgangen ist, das ich mir unbedingt merken wollte. Ich empfand es wohl als für mich sehr wichtig.
Ich versuche mich gegen diese Niederlage zu wehren, indem ich mich angestrengt zu erinnern versuche. Dabei bemerke ich erst jetzt, dass mich noch tiefe Dunkelheit umgibt und von meiner Umgebung überhaupt nichts wahrzunehmen ist.
Ein Schreck durchfährt mich. Ich empfinde nichts, und ein Gefühl von Orientierungslosigkeit überkommt mich: Angst!
Absurderweise versuche ich mich zu entsinnen, wer ich eigentlich bin. Meine Angst steigert sich. Ich will flüchten, aber ich kann mich nicht bewegen.
Plötzlich spüre ich, dass ich mich erfahre, weil mich etwas bewegt. Diese Ich-Erfahrung beruhigt mich. Ich bin, weil ich mich habe. Aber ich möchte mehr haben, weil ich noch mehr erfahren möchte. Erfahrungen wecken mein Ich, damit es Selbst werden kann.
Ohne recht zu wissen, was in mir vor sich geht, verstehe ich, dass ich mich fortbewegen muss, um einen Standpunkt zu haben.
Ich bin ein Gedanke unterwegs zum Denken. Ich bin von einem gefühlten Grundbedürfnis oder Antrieb in das Wahrnehmen hinein geboren, damit ich Gestalt annehmen und als Bewusstsein erscheinen kann.
Also erscheine ich in dem, was ich wahr nehme. Aber was ich sehe, das wird mir zu viel. Also versuche ich es durch Betrachtung zu vereinfachen. Genauer gesagt, versuche ich das Einzelne im Allgemeinen zu sehen. Diese Verallgemeinerung erreiche ich durch Beobachten von Gemeinsamkeiten, die ich dann zusammengenommen als Wesen von etwas begreife. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß jetzt, dass das, was ich bin, Gedanke genannt wird, und die Art und Weise, wie ich mich fortbewege, nennt man Denken.
Also, in dem, was ich gerade tue, denke ich.
Wahrscheinlich bin ich jetzt erwacht, denn ich merke, dass ich denken kann, indem ich frage. Und ich vermag noch nicht zu beschreiben, auf welchem Weg mich die Antworten auf meine Fragen erreichen. Jedenfalls sind sie spontan da. Es erscheint mir so, als ob sie mir aus meinem Inneren zufließen, als ob das Unbewusste daran arbeitet, für meine Fragen entsprechende Antworten zu finden.
Und die Fragen selbst, meine Fragen? Ich spüre einfach, wie sie in mir entstehen und sich entwickeln. Ich kann sogar empfinden, welche Fragen gut sind, weil ich mich fortbewegen kann und welche nicht so gut sind oder gar nichts mit dem zu tun haben, womit ich mich gerade beschäftige.
So ganz allmählich schwindet die Dunkelheit, die mich umgibt. In der Dämmerung zeichnen sich schon die ersten Umrisse meines Zuhauses ab. Ich kann Worte erkennen und verstehen, dass sie zu dem, was ich gerade denke, wirklich passen. Mir wird nun bewusst, dass ich in der Sprache zu Hause bin und dass ich mich in den Worten, die mich erreichen, fortbewege.
Ja, die Sprache ist mein Zuhause und in den Worten kann ich mich ansehen, weil sie mich in dem, was ich gerade bin, widerspiegeln.
Ich muss mich mit der Sprache gut stellen, weil sie es ist, die mich am Leben erhält. Denn je mehr mich etwas anspricht, desto länger darf ich auch bleiben und mich im Bewusstwerden aufhalten. Wenn ich aber nichts von mir aus hinzufüge, indem ich zum Beispiel frage, ist mein Erscheinen von sehr kurzer Dauer. Ich bin nämlich von Natur aus alt genug zu sterben, sobald ich ins Bewusstsein geboren werde.
Und jetzt erkenne ich, dass ich in der Bewegung des Fragens zu Hause bin. Als Gedanke erhalte ich mich in meinem Dasein durch die augenblickliche Frage, die ich habe und die mich fortbewegt.
Die Dämmerung ist nun so weit fortgeschritten, dass sie einer Aufgabe weichen muss. Und eine Aufgabe zu haben, das ist das Beste, das einem Gedanken widerfahren kann. Eine Aufgabe bedeutet nämlich, dass er einen Weg vor sich hat und sehen darf, wohin ihn seine Bewegung führen soll. Sein Denken hat ein Ziel und gehört damit zu den Grundgedanken oder Beweggründen des Denkens. Das Wissen um den Weg gehört zum wesentlichen Fortbewegungsmittel eines Gedankens.
Ich nehme an, dass durch meine Schilderung klar geworden ist, dass Gedanken sich selbst denken und erklären können. Deshalb merken wir auch sehr schnell, dass wir nicht allein sind und uns mit anderen verständigen können.
wfschmid - 9. August, 06:20
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