Ein alter Hut
© urs
Fantasie, Vernunft und Verstand bilden den dreifaltigen Urgrund des Bewusstwerdens. Diese Bildung spiegelt sich in der Natur als Sein, Entstehen und Vergehen wider. In der Zeit erscheint diese Widerspiegelung als Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Die Vergangenheit gebärt jene Erfahrungen, welche der Verstand braucht, um die Gegenwart der gestaltenden Vernunft zu begreifen, damit die Fantasie zu schauen vermag, was in der Zukunft verwirklicht werden kann.Das Zusammenspiel der Drei scheint durch jede Alltagssituation durch. So entsteht die Meditation der Zeit auf dem Bahnsteig durch die Inszenierung des Zeitflusses. Die Rolle übernimmt der rote Sekundenzeiger. Das Drehbuch liefert der Verstand durch Vorgabe des Ziffenblatts bzw. der Zeitmessung. Die Vernunft übernimmt die Regie der Erinnerungen, und die Fantasie gestaltet die Geschichten im Kopfkino des einsamen Wartenden. Die Vernunft kann jederzeit die Inszenierung verändern und den Verstand die Vernunft fragen lassen, wie sie sich eigentlich den Verlauf der weiteren Reise vorstellt. Und in Abstimmung mit der Fantasie wird die Vernunft zu jener Antizipation einladen, welche nach Hamburg Hbf schon vertraute Gewohnheit ist: eine Tasse Kaffee und ein Croissant bestellen, während das kleine Notebook mit der für Windows üblichen Gemächlichkeit hochfährt. Mit dem Eintreffen der Bestellung kann das Nachbereiten der zurückliegenden Veranstaltungen beginnen. Die Vernunft widerspricht dem kritischen Verstand und lässt die Fantasie noch einmal vor Augen führen, dass doch eigentlich alles wieder einmal gut abgelaufen ist. Planmäßig mit dem Eintreffen des Zuges in Hannover wird die Nacharbeitung abgeschlossen sein. Wenn dann der Zug nicht wieder zu voll wird, warten neue Ideen und ihre Gedanken darauf in MS Word festgehalten zu werden. Aber daraus wird nichts, weil in Hannover der Philosoph zusteigt. Vorsorglich hat er schon den Platz neben sich für den Kollegen freigehalten. Nach der wie gewöhnlich herzlichen Begrüßung beschließen die beiden, das Gespräch der letzten Fahrt fortzusetzen. Sie waren sich darüber einig, dass der gegenwärtige Schwund der Philosophie mit dem veränderten Verhältnis zur Zeit zu tun hat. Zunehmend kurzlebige Ereignisse in immer flüchtigeren Stiutuationen schlucken verbliebene besinnliche Zeiträume. Als Widerspruch zum Augenblick erzeugt Just-in-time-Stress krankmachende Besinnungslosigkeit. Der Dreiklang von Verstand, Vernunft und Fantasie während des Bewusstwerdens wird zum Missklang existenznötigender Terminzwänge.
Ein modisch schick gekleideter junger Mann spricht den Philosophen aus Hannover an. Auf dessen Jahrzehnte altes Hutmodell im Gepäckträger deutend stellt er sich vor: “Entschuldigen Sie bitte. Ich bin ein Modedesigner aus New York. Kann ich Ihnen vielleicht Ihren Hut abkaufen?” Der alte Philosophieprofessor antwortet schlagfertig: “Junger Mann, soll ich ein so altes Modell, das Sie immer noch für sehr chick halten, verkaufen? Schaffen Sie selbst etwas, das nicht aus der Mode kommt! Meinen alten Hut werde ich noch so lange tragen, bis wir beide nicht mehr gefragt sind.” Etwas irritiert entschuldigt sich der junge Designer.
wfschmid - 28. Januar, 05:10
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