Unilogo

31
Jan
2012

Punkt Null

 

© urs

“Punkt Null” ist letztlich eine typisch gewulffte Aussage. “Punkt Null”, jeder glaubt das, obgleich letztlich alle wissen, das sowohl “Punkt” als auch “Null” nicht wirklich, sondern allein in der Fantasie existieren. Obwohl die Zeit “Punkt Null” also niemals erreichen wird und deshalb auch von keiner Bahnhofsuhr angezeigt werden kann, gibt es Züge, für deren Abfahrt der Fahrplan “Punkt Null” vorsieht. Auf einen dieser Züge warten Fantasie, Vernunft und Verstand auf Bahnsteig Null von Nihil.
Bahnsteig Null ist das einzige Gleis der gesamten Gleisanlage, das am Ende dieses Bahnsteigs vor einem Prellbock endet, so dass an diesem Bahnsteig Anfang und Ende eines Zuges und damit auch Anfang und Ende einer Reise zusammenfallen. Um solchen Bahnsteigen gerecht zu werden, fehlt einem ICE Anfang und Ende. Diese werden vielmehr erst dann bestimmt, wenn der Lokführer einsteigt und sich dadurch für eine der beiden gleichen Zugführerkabinen entscheidet.

Jedenfalls warten die drei Reisenden am Ende des bereitzustellenden Zuges, also am Anfang des Bahnsteiges, weil sie in den ersten Wagen des Zuges einsteigen wollen. Der Fantasie ist es dabei immer etwas unbehaglich zumute, weil sie sich in der Mitte des Zuges am sichersten fühlt. Sie hält auch nichts von den Wahrscheinlichkeiten eines Unfalls, die ihr der Verstand dann zur Beruhigung anbietet. Aber heute lässt sie sich ja auf das von ihr vorgestellte Risiko ein und trägt deshalb die Entscheidung von Vernunft und Verstand mit. Ihnen bleibt nämlich in Fankfurt-Hauptbahnhof ansonsten zu wenig Zeit zum Umsteigen. Und die Fantasie kann nun einmal nicht so schnell rennen wie Vernunft und Verstand.

“Achtung Reisende auf Bahnsteig Null. Ihr ICE nach Ens, planmäßige Abfahrt Null Uhr, wird nun bereitgestellt!” Die drei haben einen der beiden Dreiertische im Großraumwagen reserviert. Die Fantasie überlässt gern Vernunft und Verstand die beiden Fensterplätze, weil sie lieber während der Fahrt träumt, statt in Nichts der vorbeirasenden Landschaft zu starren. Sie bewundert den Verstand, der sogar Ortsschilder erkennen kann, weil seine Augen der Bewegungsrichtung des Hochgeschwindigkeitszuges für kleine Augenblicke zu folgen vermögen. Aus diesem Grund wählt er gern den Sitz entgegen der Fahrtrichtung. Da entschwinden die fixierten Blickpunkte nicht so schnell.

In der Ferne taucht der ICE der Baureihe 3 auf. Gemächlich rollt er auf den Bahnsteig zu. Die drei weichen ein wenig von der Bahnsteigskante zurück. Als der Zug steht, öffnet die Vernunft auf Knopfdruck elektropneumatisch die schwere Schwenkschiebetür, die sich mit einem Zischen aus ihrem Türrahmen löst und nach außen hin zur linken Seite verschiebt. Die drei nehmen ihre Plätze ein und machen es sich bequem. Nach einigen Minuten betritt ein weiterer Reisender den Großraumenwagen, steuert auf die Vernunft zu und sagt mit rechthaberisch arrogantem Unterton: “Entschuldigen Sie bitte. Das ist wohl mein Platz!” Die Vernunft antwortet ein klein wenig zu spitz: “Das glaube ich nicht!” “Madame, das ist keine Frage des Glaubens, sondern der Platzordnungsnummer!” Ein Vergleich der beiden Reservierungstickets ergibt Übereinstimmung. Als die Vernunft der Ärger überkommt und bevor sie wütend reagieren kann, prüft der Verstand noch einmal beide Reservierungen. Dann erklärt er dem Reisenden freundlich, etwas schadenfroh lächelnd: “Sie haben natürlich Recht! Aber Sie befinden sich im falschen Wagen!”

Spätestens als der ICE pünktlich um Null Uhr Nihil verlässt, wird Vernunft und Verstand klar, dass sie sich in einem Neuronen-Zug der Fantasie befinden. “Informed cluster existential” statt “Intercity-Express”. Die Vorstellung der Fantasie ist die Wirklichkeit von Vernunft und Verstand, die beides nicht zu unterscheiden vermögen. Sie leben in der durch das Bilderleben der Fantase gestalteten und für sie zurechtgemachten schönen Welt des Scheins. Es muss genügen zu wissen, dass sie nur sind bzw. sich selbst als seiend erfahren, solange sie denken, also das Bilderleben der Fantasie erfahren. Nun fragt sich der Verstand, was die Fantasie eigentlich mit ihrer Einladung zur Fahrt nach Ens bewirkt. Ihm ist klar, dass “Nihil” ein lateinischer Name für “Nichts” ist und “Ens” bedeutet. “Was bezweckt die Vernunft mit dem Besuch von Ens? Die Fantasie bemerkt das Sinnieren des Verstandes, und sie spürt, dass er sich nach dem Sinn dieser Reise fragt. Und so verrät ihm die Fantasie, dass sie die Vernunft und ihn vom Leiden unter dem schönen Schein befreien will. “Dir ist schon klar, dass wir uns in einem von mir ausgewählten Informed cluster existential befinden, also uns nur in diesem von mir informierten neuronalen Netz bewegen. Diese Tatsache erfahrt ihr beiden dank meiner Bilder als gestaltetes Werden. Wenn nämlich eine Fantasie die ihr verantworteten Verstand und Vernunft nicht angemessen unterhält, fällt denen nichts mehr ein, und sie verkümmern. Alle Wesen besitzen eine Fantasie, die stark genug ist, um sie aus dem Schein geleiten zu können."

In diesem Augenblick fährt der Zug in Sophia ein. Nachdem er zum Halten gekommen ist, hört der Verstand, dass die freundliche Ansagerin "Sophia” wie das griechische Wort für Weisheit, also auf dem “i” betont und das “i” dabei dehnt. Die Vernunft staunt über die vielen Wörterwesen auf dem Bahnsteig, von denen nur wenige zusteigen. Wenige Augenblicke später setzt sich der ICE wieder in Bewegung. “Wir begrüßen jetzt im ICE nach Ens alle zugestiegenen Fahrgäste und wünschen eine angenehms Fahrt. Nächster Halt ist Empeira. Wir werden diesen Ort voraussichtlich fahrplammäig um Null Uhr erreichen!” Spätestens jetzt wird dem Verstand klar, dass Empeira in einer Zeitzone liegt. Vorsichtshalber erkundigt er sich bei der Fantasie, ob sie fahren, ohne sich zu bewegen. Die Fantasie verneint das und erklärt, dass Bahnhofsuhren Nano- bzw. Neurosekunden nicht messen und anzeigen können. Die beiden werden von der Vernunft unterbrochen: "Meine Uhr ist wie die Bahnhofsuhr in Sophia stehen geblieben." Der Verstand erklärt ihr, dass nicht die Uhren stehen geblieben sind, sondern dass vielmehr für Uhren noch gar keine Zeit vergangen ist. "Entschuldigt, das ist mir jetzt sehr peinlich. Ich habe völlig vergessen, dass es in Sophia gar keine Kategorien gibt."
Nach einiger Zeit hält der ICE erneut. “Sophia. Hier ist Sophia. Der soeben aus Nihil planmäßig eingefahrene ICE hat nur wenige Augenblicke Aufenthalt!"
 

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