Die Zeit trifft Oma Merle

Zeit: "Hallo Merle!"
Merle: "Hallo Chroni!"
Zeit: "Wie kommt es, dass ihr Tiere euch so gut auf mich versteht?"
Merle: "Das fragst du ausgerechnet eine alte Amsel?"
Zeit: "Ich war gerade in der Nähe."
Merle: "Rede doch nicht. Du bist doch überall, wo deine Freunde sind!"
Zeit: "Du hast ja recht!"
Merle: "Wir haben keine Uhr!"
Zeit: "Was?"
Merle: "Hast du deine Frage vergessen?"
Zeit: "Du hast eine innere Uhr!"
Merle: "Mag sein, aber die nützt mir in der Stadt nichts. Ich achte auf die Zeit, indem ich sie höre und sehe!"
Zeit: "Magst du erzählen?"
Merle: "Also, ich brauche Zeiten zum Spielen, zum Fressen, zum Träumen und zum Singen."
Zeit: "Und wie teilst du dir das ein?"
Merle: "Morgens, sobald es dämmert, beginne ich mit meinem Morgengesang. Wenn die ersten Spatzen vorsichtig zu piepsen anfangen, fliege ich zu meinem Lieblingsfrühstücksplatz im Stadtpark. Nach dem Frühstück singe ich noch ein bisschen oder unterhalte mich mit meinen Freunden und Freundinnen. Dann mache ich einen längeren Ausflug, meistens in die Stadt. Da fällt oft etwas für mich ab von Menschen, die unvorsichtig mit ihren mitgenommenen Frühstücksbrötchen umgehen. Dann setze ich mich auf eine alte Kastanie und beobachte die armen Menschen, die zur Arbeit hetzen. Du kannst an ihrem Gang sehen, wie sie mit der Zeit umgehen."
Zeit: "Kannst du das beschreiben?"
Merle: "Ich versuche es. Da gibt es Männer, die alle ähnlich aussehen und fast gleiche Koffer haben. Sie gehen schnell und fast kerzengerade. Ihre Schritte sind sehr gleichmäßig und fast geräuschlos. Sie bewegen sich fast wie Sekundenzeiger. Alles wirkt bemessen. Wahrscheinlich ist die Uhrzeit deren Chefin. Andere gehen nicht so geradeaus. Sie schlendern ein wenig und werfen auch schon einmal einen Blick in ein Schaufenster. Vermutlich haben sie keine Zeitprobleme. Es scheint fast so, als ob sie vor sich hin träumen. Und dann gibt es noch die jungen Frauen im mittleren Management. Sie gehen schnurstracks geradeaus und pochen mit dem stechenden Geräusch ihrer Stöckelschuhe auf ihre Wichtigkeit. Sie scheinen der Zeit nachzulaufen, um nach oben zu kommen."
wfschmid - 15. Juli, 06:51
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