Philosophie (2)
WAS MIR MEINE ERINNERUNG ERZÄHLT
Ich kann mich einfach nicht erinnern, wer mir wo und wann Philosophieren beigebracht haben könnte. Meine Erinnerungen zeigen mir mich als ruhiges, wahrscheinlich zu stilles, weil ganz in sich gekehrtes Kind.
Ich wuchs in einem Arbeiterviertel der Suppenfabrik Maggi auf. Mein Vater durfte dort auf Lebzeiten fast umsonst wohnen. Das hatte mit seiner Abfindung zu tun, denn das Unternehmen hatte ihn aufgrund seiner Erblindung im Krieg vor die Tür gesetzt. Einen kriegsblinden Expedienten konnte sie da wirklich nicht mehr brauchen. Mein Vater schulte daraufhin in Marburg um und wurde Sozialrichter.
Das Viertel, in dem ich aufwuchs, war wie damals üblich, ein in sich abgeschlossener Gebäudekomplex, allseitig durch Straßen abgeschirmt und mit einem sehr geräumigen Innenhof und großer Rasenfläche, auf der große Kastanienbäume standen. Auf der westlichen Seite des Innenhofs stand zudem ein dreistöckiges Fachwerkhaus, in dem drei Familien aus Italien wohnten.
In diesem gleichsam multikurellen Innenhof, durch kleine Straßen mit Parkplätzen strukturiert, spielte sich natürlicherweise alles ab, weil die Bewohner sich dort häufig trafen und auch zu kleinen Schwätzchen Zeit fanden. Zudem spielten alle Kinder dort, und für Jugendliche aller Altersgruppen war es immer ein guter Treffpunkt.
Diesem ghettoähnlichen Gebäudekomplex gegenüber lag eine Großgärtnerei der Fabrik, hinter der sich wiederum ein großer Park verbarg. Dieser war von einem schmiedeeisernen hohen Gitter auf einer wehrartigen Mauer umgeben. Hohe Sträucher und Büsche versperrten den Blick auf eine große im klassischen Jugendstil gebaute Villa. Diese wurde von einem Generaldirektor der Maggi und seiner Familie aus der Schweiz nebst ihrer Bediensteten bewohnt.
Mich reizte diese verborgene, geheimnisvolle Welt. Da es den Kindern verboten war, auch nur in der Nähe dieser Villa zu spielen, dauerte es eine Weile, bis ich mich in das verbotene Gebiet wagte.
Es war Marieluise, die eines Tages ausgerechnet auf der Zugangsstraße zur Villa, eine Privatstraße, ihre neuen Rollschuhe ausprobieren wollte. Sie fand nämlich, dass sich diese bestens geteerte Straße in der Nähe für ihre ersten Versuche besonders gut eignete. Zudem konnten sie da andere Kinder nicht beobachten und auslachen.
Aber durch den Lärm der Rollschuhe angelockt, erschienen hinter dem Gitter bald die beiden Kinder der Schweizer Familie, Geschwister im gleichen Alter wie Marieluise und ich. Jean und Christiane riefen auf Schwiezerzdütsch mich und Marieluise zu sich, um zu erfahren, woher wir eigentlich kommen.
Als wir beide erklärten, dass wir im Niederhof wohnen, sagte Jean, dass sie den nicht kennen, weil sie nur im Park spielen dürfen. Marieluise wollte wissen, ob sie und ich denn im Park mitspielen dürfen.
Jean und Christiane lächelten geheimnisvoll und verrieten, dass sie eine Lücke im Gitter kennen. Gesagt, getan. Wir vier spielten Ball. Auf uns fröhlich lärmende Kinder aufmerksam geworden, erschien der Pförtner und fragte erschrocken, wie es denn sein könne, dass fremde Kinder in den Park gelangten, ohne sich bei ihm anzumelden.
Aber da tauchte auch schon die Mutter von Jean und Christiane auf und rief, dass es Zeit für das Nachmittagsgetränk ist. Christiane forderte Marieluise und mich auf, doch mitzukommen. Ich wollte erst nicht, aber Marieluise hatte sofort begeistert zugestimmt. Sie und ich staunten nicht schlecht, hatten wir ja noch nie ein so großes Haus mit so großen Räumen gesehen. Jean und Christiane führten uns auf eine große Veranda, auf der ein weiß gedeckter Tisch mit Kuchen und Kakao stand. Die Mutter brachte noch zwei Gedecke, zog zwei weitere Stühle heran und bat uns, uns zu setzen.
Statt des erwarteten Donnerwetters erkundigte sie sich bei meiner Schwester und mir, wo wir zu Hause sind. Sie glaubte sogar, mich vom Sehen her zu kennen. "Ja, Du bist der Junge, der seinen Vater des öfteren führt!… …Ich habe euch nämlich schon wiederholt gesehen, als ich den Wagen aus der Garage fuhr. Einmal habe ich Deinen Vater sogar gefragt, ob ich ihn nach Hause bringen darf. Da war er nämlich ganz allein unterwegs. Aber er wollte nicht!“
Nachdem wir tüchtig Kuchen gefuttert und Kakao getrunken hatten, wollte Marieluise nach Hause. Wir verabschiedeten uns von der freundlichen Frau, die uns zum Tor brachte und sogar noch hinterher winkte.
Mir war nun klar, dass es außer dem Niederhof noch eine andere, freundlichere Welt gibt, und ich beschloss, mich tüchtig anzustrengen, um meine enge Welt eines Tages verlassen zu können.
In der Villa des Direktors Hefti habe ich gelernt, dass man auch in einem gehobeneren Milieu ganz normal sein kann.
Obwohl mein Vater wegen seiner Behinderung in der Familie nicht gern gesehen war, lud die Schwester seiner Mutter, Tante Mathilde, uns aus Mitleid wiederholt in den Sommerschulferien zu sich nach Ulm ein. Auch hier begegneten uns für uns völlig unbekannte Welten. Tante Mathilde wohnte im eigen schön Haus, von einem herrlichen Garten mit Obstbäumen umgeben. Wir beiden Geschwister kannten bis dahin nur einfache Mietwohnungen. Obwohl wir uns gut anzupassen verstanden, mussten wir doch noch Einiges an Benehmen lernen. Außerdem mussten wir Kleinstadtkinder erst einmal an das Großstadtleben gewöhnen. Vor allem beeindruckten uns die Straßenbahnen und die vielen großen, eleganten amerikanischen Autos der US Soldaten. Zuvor haben wir auch noch nie farbige Menschen gesehen.
Ich kann mich einfach nicht erinnern, wer mir wo und wann Philosophieren beigebracht haben könnte. Meine Erinnerungen zeigen mir mich als ruhiges, wahrscheinlich zu stilles, weil ganz in sich gekehrtes Kind.
Ich wuchs in einem Arbeiterviertel der Suppenfabrik Maggi auf. Mein Vater durfte dort auf Lebzeiten fast umsonst wohnen. Das hatte mit seiner Abfindung zu tun, denn das Unternehmen hatte ihn aufgrund seiner Erblindung im Krieg vor die Tür gesetzt. Einen kriegsblinden Expedienten konnte sie da wirklich nicht mehr brauchen. Mein Vater schulte daraufhin in Marburg um und wurde Sozialrichter.
Das Viertel, in dem ich aufwuchs, war wie damals üblich, ein in sich abgeschlossener Gebäudekomplex, allseitig durch Straßen abgeschirmt und mit einem sehr geräumigen Innenhof und großer Rasenfläche, auf der große Kastanienbäume standen. Auf der westlichen Seite des Innenhofs stand zudem ein dreistöckiges Fachwerkhaus, in dem drei Familien aus Italien wohnten.
In diesem gleichsam multikurellen Innenhof, durch kleine Straßen mit Parkplätzen strukturiert, spielte sich natürlicherweise alles ab, weil die Bewohner sich dort häufig trafen und auch zu kleinen Schwätzchen Zeit fanden. Zudem spielten alle Kinder dort, und für Jugendliche aller Altersgruppen war es immer ein guter Treffpunkt.
Diesem ghettoähnlichen Gebäudekomplex gegenüber lag eine Großgärtnerei der Fabrik, hinter der sich wiederum ein großer Park verbarg. Dieser war von einem schmiedeeisernen hohen Gitter auf einer wehrartigen Mauer umgeben. Hohe Sträucher und Büsche versperrten den Blick auf eine große im klassischen Jugendstil gebaute Villa. Diese wurde von einem Generaldirektor der Maggi und seiner Familie aus der Schweiz nebst ihrer Bediensteten bewohnt.
Mich reizte diese verborgene, geheimnisvolle Welt. Da es den Kindern verboten war, auch nur in der Nähe dieser Villa zu spielen, dauerte es eine Weile, bis ich mich in das verbotene Gebiet wagte.
Es war Marieluise, die eines Tages ausgerechnet auf der Zugangsstraße zur Villa, eine Privatstraße, ihre neuen Rollschuhe ausprobieren wollte. Sie fand nämlich, dass sich diese bestens geteerte Straße in der Nähe für ihre ersten Versuche besonders gut eignete. Zudem konnten sie da andere Kinder nicht beobachten und auslachen.
Aber durch den Lärm der Rollschuhe angelockt, erschienen hinter dem Gitter bald die beiden Kinder der Schweizer Familie, Geschwister im gleichen Alter wie Marieluise und ich. Jean und Christiane riefen auf Schwiezerzdütsch mich und Marieluise zu sich, um zu erfahren, woher wir eigentlich kommen.
Als wir beide erklärten, dass wir im Niederhof wohnen, sagte Jean, dass sie den nicht kennen, weil sie nur im Park spielen dürfen. Marieluise wollte wissen, ob sie und ich denn im Park mitspielen dürfen.
Jean und Christiane lächelten geheimnisvoll und verrieten, dass sie eine Lücke im Gitter kennen. Gesagt, getan. Wir vier spielten Ball. Auf uns fröhlich lärmende Kinder aufmerksam geworden, erschien der Pförtner und fragte erschrocken, wie es denn sein könne, dass fremde Kinder in den Park gelangten, ohne sich bei ihm anzumelden.
Aber da tauchte auch schon die Mutter von Jean und Christiane auf und rief, dass es Zeit für das Nachmittagsgetränk ist. Christiane forderte Marieluise und mich auf, doch mitzukommen. Ich wollte erst nicht, aber Marieluise hatte sofort begeistert zugestimmt. Sie und ich staunten nicht schlecht, hatten wir ja noch nie ein so großes Haus mit so großen Räumen gesehen. Jean und Christiane führten uns auf eine große Veranda, auf der ein weiß gedeckter Tisch mit Kuchen und Kakao stand. Die Mutter brachte noch zwei Gedecke, zog zwei weitere Stühle heran und bat uns, uns zu setzen.
Statt des erwarteten Donnerwetters erkundigte sie sich bei meiner Schwester und mir, wo wir zu Hause sind. Sie glaubte sogar, mich vom Sehen her zu kennen. "Ja, Du bist der Junge, der seinen Vater des öfteren führt!… …Ich habe euch nämlich schon wiederholt gesehen, als ich den Wagen aus der Garage fuhr. Einmal habe ich Deinen Vater sogar gefragt, ob ich ihn nach Hause bringen darf. Da war er nämlich ganz allein unterwegs. Aber er wollte nicht!“
Nachdem wir tüchtig Kuchen gefuttert und Kakao getrunken hatten, wollte Marieluise nach Hause. Wir verabschiedeten uns von der freundlichen Frau, die uns zum Tor brachte und sogar noch hinterher winkte.
Mir war nun klar, dass es außer dem Niederhof noch eine andere, freundlichere Welt gibt, und ich beschloss, mich tüchtig anzustrengen, um meine enge Welt eines Tages verlassen zu können.
In der Villa des Direktors Hefti habe ich gelernt, dass man auch in einem gehobeneren Milieu ganz normal sein kann.
Obwohl mein Vater wegen seiner Behinderung in der Familie nicht gern gesehen war, lud die Schwester seiner Mutter, Tante Mathilde, uns aus Mitleid wiederholt in den Sommerschulferien zu sich nach Ulm ein. Auch hier begegneten uns für uns völlig unbekannte Welten. Tante Mathilde wohnte im eigen schön Haus, von einem herrlichen Garten mit Obstbäumen umgeben. Wir beiden Geschwister kannten bis dahin nur einfache Mietwohnungen. Obwohl wir uns gut anzupassen verstanden, mussten wir doch noch Einiges an Benehmen lernen. Außerdem mussten wir Kleinstadtkinder erst einmal an das Großstadtleben gewöhnen. Vor allem beeindruckten uns die Straßenbahnen und die vielen großen, eleganten amerikanischen Autos der US Soldaten. Zuvor haben wir auch noch nie farbige Menschen gesehen.
wfschmid - 25. April, 04:45
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