Kraft der Fantasie
Das innere Auge bedarf wegen der intensiven ästhetischen Funktion der Bilderzeugung der Kraft der Fantasie, um das Schauen von Sein hervorscheinen zu lassen.
Durch konzentriertes Loslassen sich aufdrängender Erinnerungen und Erfahrungen verdichten sich mögliche Fantasien zu einem sinnlich vernehmbaren Lichtpunkt, aus dem heraus aus der Tiefe unbewussten Sein eine Projektion hervorscheint.
Die meisten Esoteriker fantasieren diesen Vorschein in absurden okkulten Bildern und beanspruchen auf diese Weise Erfahrungen, über die sie nicht verfügen.
Sie missbrauchen gleichsam die Kraft ihrer Fantasie, in der Regel um Machttriebe und/oder Geldgier zu befriedigen. Dabei gestalten sie das Öffnen des inneren Auges so kompliziert, dass die meisten interessierten Suchenden frustriert aufgeben.
Aber jeder künstlerisch Schaffende geht mit innerem Wahrnehmen ganz natürlich um. Er empfängt wie selbstverständlich innere Bilder und/oder Worte und setzt sie spontan ins Werk.
Aus diesem Grund erscheint das, was Künstler und Künstlerinnen über die Welt hinter dem Horizont ins Werk setzen auch wahrhaftiger. Kunst geht mit Selbstbefreiung einher. Als Kern des Ichs treibt das Selbst aus sich künstlerisch schaffend heraus.
In seinem Höhlengleichnis weist Platon auf den Weg der Selbstbefreiung des Ichs hin. Es ist das Wagnis, das Wissen aus seinen Engen zu befreien und die Intuition (wieder) zuzulassen. Das Ich vermag sich nämlich einzig und allein intuitiv selbst zu schauen.
Der im Selbst Gefangene erkennt im Augenblick seiner Befreiung aus der Höhle das Licht der höchsten Idee. Diese Erkenntnis entspringt dem Glauben auf Grund seiner Erfahrungen, dass sich im reinen inneren Licht das anerzogene Selbst dem Ich als bloßer Schatten des Gehabes seiner Erzieher offenbart.
Angesichts dieser Offenbarung erscheinen dem Ich alle Annahmen des Selbst als unwahr. Und die innere Stimme teilt dem Ich mit, dass nichts von dem wahr ist, was es bislang seinem Selbst zugesprochen hat.
Im reinen, weil von Erziehung ungefilterten inneren Licht, schaut das Ich die Wahrheit des Selbst. Und Lethe, die Göttin oder Kraft des Vergessens, offenbart dem Ich, dass das Selbst verunreinigt und zum Krankheitsherd wird, sobald ihm überhaupt Eigen-schaften irgendwelcher positiver oder negativer Art zugesprochen werden.
"Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Reich Gottes kommen." (Markus 10, 13 - 16)
Kleine Kinder kennzeichnet darüber die völlige kör-perliche Abhängigkeit und geistige, seelische Unab-hängigkeit von den Eltern und Erziehern. Die kindliche Fantasie lässt eine Gleichschaltung von körper-licher Abhängigkeit und geistig, seelischer Unabhängigkeit nicht zu und entführt das Kind jederzeit in seine eigene Welt, um es zu retten.
Es ist die kindliche Unvoreingenommenheit, die allein das wahre Selbst schaut. Lethe verhilft zum Ausstieg aus der eigenen Höhle, indem sie jeden Gedanken einer unwahren Selbsteinschätzung verbietet bzw. gebietet, diesen unmittelbar loszulassen. Und es ist die Zeit, die dann aufgrund der Übungen des Loslassens von den Selbstschändungen reinigt.
Allein ein freies, wahres, weil vom Ich nicht ausgelegtes Selbst ermöglicht dem Ich die Existenz in der Allgegenwart Gottes, denn das "Himmelreich", das überall ist, duldet wie das Selbst keinerlei Auslegung.
Paradoxerweise fordert die Seele das Ich trotz Los-lassens auf, sich wieder sinnlich anschauen zu ler-nen. "Dein innerer Spiegel zeigt Dir, inwieweit es Dir gelingt, die Spuren der Erziehung zu beseitigen!" Das unangenehme Gefühl, welches diese Berührung der inneren Stimme das Ich noch spüren lässt, macht die Entfernung zum Selbst deutlich.
"Einer von den Pharisäern, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (nach MT 22, 37-39 verkürzt)
Ohne Liebe ist das Selbst nicht zu haben. Ohne Selbstliebe vermag das Ich sich nicht zu finden. Selbstliebe sollte allerdings nicht zum Narzissmus oder zur homosexuellen, körperlichen Selbstverliebtheit entarten.
Bei der Fantasie (φαντασία phantasía – „Erscheinung“, „Vorstellung“, „Traumgesicht“) handelt es sich letztlich um eine vernachlässigte geistig seelische Kraft. Im Zusammengang mit Denken findet sie kaum Beachtung. Dennoch bestimmt Fantasie als „Bilder-Leben“ (Bilderleben) Denken maßgeblich.
Das Verdrängen der Fantasie aus dem Bewusstsein lässt Wirklichkeit als Illusion in Vergessenheit geraten. Zurück bleibt die ungenutzte Chance, durch den Schein das Sein zu schauen.
wfschmid - 14. Januar, 03:03
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