Unilogo

3
Jun
2011

Nichts als 'Gemeine'


Im zweiten Vortrag der Basler Vorträge über die Zukunft unserer Bildungsanstalten sagt Friedrich Nietzsche am 6. Februar 1872(1):

„Man mache sich nur einmal mit der pädagogischen Literatur dieser Gegenwart vertraut; an dem ist nichts mehr zu verderben, der bei diesem Studium nicht über die allerhöchste Geistesarmut und über einen wahrhaft täppischen Zirkeltanz erschrickt. Hier muss unsere Philosophie nicht mit dem Erstaunen, sondern mit dem Erschrecken beginnen: wer es zu ihm nicht zu bringen vermag, ist gebeten, von den pädagogischen Dingen seine Hände zu lassen.“

„... Dass es aber trotzdem nirgends zur vollen Ehrlichkeit kommt, hat seine traurige Ursache in der pädagogischen Geistesarmut unserer Zeit; es fehlt gerade hier an wirklich erfinderischen Begabungen, es fehlen hier die wahrhaft praktischen Menschen, das heißt diejenigen, welche gute und neue Einfälle haben und welche wissen, dass die rechte Genialität und die rechte Praxis sich notwendig im gleichen Individuum begegnen müssen: während den nüchternen Praktikern es gerade an Einfällen und deshalb wieder an der rechten Praxis fehlt.“(2)

„Und das Folgende aus einer Philosophievorlesung lese ich Ihnen auch noch vor:

Hört man sich an Universitäten um und erkundigt sich an verschiedenen Fakultäten, dann findet man Nietzsches Beurteilung durchaus bestätigt. Interessant ist nun aber letztlich nicht das Ansehen der Pädagogik, sondern vielmehr die Frage, wie so etwas entstehen kann. Man wird überrascht sein, dass nur noch ein zu hoher Medien-, insbesondere ein zu hoher Fernsehkonsum Ähnlichkeit mit dem pädagogischen Drahtverhau aufweist.
Ein vergleichbares Phänomen zur pädagogisch bedingten Wahrnehmungsfeldverengung und Vorstellungsverfälschung ist der sogenannte Tunnelblick. Der Tunnelblick verdankt seine Entdeckung der Feststellung, dass Grundschulkinder, die zu viel fernsehen, sich nicht mehr in der Lage zeigen, rückwärts zu gehen, weil sie die Seitenorientierung aufgrund der Verengung ihres Gesichtsfeldes verloren haben.
Zufolge ihres viel zu hohen Fernsehkonsums hat das Gehirn gelernt, dass die wirklich wichtigen Ereignisse in der Mitte des Gesichtsfeldes stattfinden, eben dort, wo in der Regel das Fernsehgerät steht. Diese Kinder sind also gleichsam dazu konditioniert worden, nur noch auf das zu achten, was im Zentrum ihres Gesichtsfeldes geschieht. (3)

Die Infektion durch sprachliche Übertragung mittels infizierter gesprochener oder schriftlich formulierter Texte zeigt eine durchaus vergleichbare Wirkung. Das mit diesem Virus infizierte Bewusstsein verliert gewissermaßen den Überblick und greift fast nur noch auf vorhandene Reiz-Reaktions-Muster zurück. Es gilt aufgrund des Selbst-Verlustes nicht mehr das, was selbst formuliert wird, sondern fast nur noch fremd Formuliertes. Die Sucht zu zitieren und die Abneigung bzw. das Unvermögen zu jeder Form von Reflexion zeugt von dieser Abhängigkeit.
Die einfachen Schemata vorformulierter Meinungen ermöglichen keine Bewusstseinsprozesse, die über das bloße Identifizieren und schematische Interpretieren hinausgehen.
Sorgfältiges Wahrnehmen, kritisches Betrachten, trennscharfes Beobachten und anwendungsbezogenes Begreifen fallen dann zwangsläufig aus. Dieser Ausfall geht mit dem Verlust von Neugier, von Wissensdrang, von Entdeckungsdrang und Schaffensfreude einher.“

Hekate blickt Aesthe von der Seite an, um vielleicht an ihrem Minenspiel erraten zu können, wie sie über das Gehörte denkt.

Während Aesthe ihren Blick auf den starken Feierabendverkehr richtet, sagt sie „Jetzt brauch’ ich erst einmal eine Zigarette!“

Als sie sich endlich auf dem Zubringer zur A1 nach Köln befinden, sagt Lethe mit einem kurzen Blick zu Hekate:

„Das geht alles von einem Ideal aus, das sich wohl niemals erreichen lässt. Ich frage mich, ob der Mangel nicht vielmehr in der menschlichen Natur zu suchen ist statt in einer pädagogischen Vorgehensweise! Was mich allerdings stutzig macht, ist, was über die Ausbildung gesagt wird. Das hört sich für mich eher nach Clan als nach Wissenschaft an. Jedenfalls werde ich mich da kundig machen!“

„Aesthe, selbst wenn an dem ‚was dran wäre, was da behauptet wird, sind wir nicht die richtigen Leute, um dagegen etwas zu unternehmen. Oh, entschuldigen Sie bitte, Frau Logkat, dass ich Sie versehentlich dutze!“

Aesthe den Kopf schüttelnd und lächelnd: „Nein, nein, lassen wir es dabei! Hekate, das gefällt mir ohnehin sehr viel besser! Ja, Du hast Recht. Aber weil der Abt erwartet, dass wir ihn unterstützen, werde ich das kompetentere Leute als wir es sind prüfen lassen!“

Aesthe fährt Hekate direkt nach Hause, weil sie beide heute nicht mehr ins Büro gehen wollen.



(1) Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden / hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. [Bd. 1-13 mit Vorbem. von Mazzino Montinari, Bd. 1-6, 11 und 13 mit Nachw. von Giorgio Colli, übers. von Ragni Maria Gschwend]. - Dünndruck-Ausg. - München : Deutscher Taschenbuch Verlag ; Berlin ; New York : de Gruyter, 1980. - (dtv ; [5977]) Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873. - 924 S.
Darin im Abschnitt "Basler nachgelassene Schriften 1870-1873": Zwei öffentliche Vorträge über die griechische Tragödie [Erster Vortrag: Das griechische Musikdrama. Zweiter Vortrag: Socrates und die Tragödie]. Die dionysische Weltanschauung. Die Geburt des tragischen Gedankens. Sokrates und die griechische Tragödie. Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern [Über das Pathos der Wahrheit. Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Der griechische Staat. Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur. Homer's Wettkampf]. Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift "Im neuen Reich". Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Mahnruf an die Deutschen.
(2) ebd.
(3) Vgl. Manfred Spitzer: Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung und Gesellschaft; Klett, 4. Aufl., Stuttgart 2006


2
Jun
2011

Formen und Inhalte


Auf dem Weg zum Parkplatz erklärt die bis dahin schweigsame Hekate: „Die Sache ist schon merkwürdig, aber es handelt sich doch wohl um keine Strafsache oder?“

„Oh, Hekate, ich dachte schon, es hätte Ihnen die Sprache verschlagen!“, lacht Aesthe Logkat sie an.

„Nein, nein, aber ich wollte Ihnen nicht widersprechen, zumal nicht als pure Anfängerin. Das hätte doch wohl keinen guten Eindruck gemacht!“

„Vielleicht!, okay, dann widersprechen Sie mir jetzt!“

Hekate erzählt ihr von ihrem zweisemestrigen Versuch eines Gymnasiallehramtsstudiums, das sie aber wieder aufgibt, weil nichts wissenschaftlich Gesichertes gelehrt wird.
„Jeder erzählt immer wieder nur das, was er meint oder von anderen Meinern übernimmt. Pädagogik ist echt nur unerträgliches Meinen!“

Während Hekate ihr Tablet aus ihrer Jackentasche zieht, fragt sie Aesthe, ob sie vorlesen soll, was der Philosoph Friedrich Nietzsche dazu sagt.

„Ja, das verkürzt die Fahrt.“

1
Jun
2011

Neuronale Hacker und?


Die Kriminalkommissarin legt den Flyer beiseite und kommentiert ihren ersten Eindruck etwas ratlos. „Ich verstehe zwar nicht alles, aber so viel verstehe ich: Das ist sicher kein Fall für die Kriminalpolizei. Mir ist auch kein Fall bekannt, bei dem Eltern einen Lehrer anzeigen, weil er im Unterricht ihre Kinder drangsaliert. Nein, das hier können Sie ganz ganz schnell vergessen!“

„Da bin ich anderer Auffassung!“ wendet Claire Frank ein. „Als Psychologin und Ärztin habe ich genug mit suizidgefärdeten Kindern zu tun, die aus dem Unterricht in den Tod flüchten wollen, weil sie es nicht mehr aushalten. Solche Kinder werden durch Unterricht schlichtweg so verwirrt, dass sie es ‚im Kopf nicht mehr aushalten’! Oder verstehen Sie den Sinn einer Aufgabe, in der danach gefragt wird, wie lange drei Arbeiter für eine 15 Meter lange Mauer benötigen, wenn 2 Arbeiter für eine 6,5 Meter lange Mauer eineinhalb Tage brauchen?“

Die Kommissarin gibt zu bedenken, dass eine solche Überlegung im Rahmen eines Projektmanagements durchaus angebracht sein könnte.

„Ja, natürlich! Aber Kinder sind keine Projektmanager!“, betont die Psychologin und setzt dann fort: „Dieser berufliche Zusammenhang müsste ihnen natürlich erklärt werden! Und genau das wird sträflich vernachlässigt. Es erfolgen keinerlei Sinngebungen durch Herstellen von Zusammenhängen! Da aber das Gehirn neuronal systemisch arbeitet, um auf diese Weise sinngebende Netze schaffen zu können, wird es durch solche unterrichtlichen Mängel ganz empfindlich gestört!“

„Ah, ich verstehe, und gegen solche Machenschaften wollen Sie nun vorgehen?“, fragt die Kommissarin.

Nachdem der Abt und die Institutsleiterin zustimmen, erklärt Aesthe Logkat, dass sie sich dieser bedenkenswerten Sache annehmen und sie prüfen werde.

31
Mai
2011

Infektion (Flyer)


Die linke Hirnhälfte ist vor allem auf jene Informationen angewiesen, welche Bewusstseinsinhalte zu strukturieren und systematisieren helfen. Helfende Informationen dieser Art bieten vor allem Mathematik und in eingeschränkter Weise die sogenannten Alten Sprachen.

Die rechte Hirnhälfte ist vor allem auf jene Informationen angewiesen, welche helfen, mit Bewusstseinsinhalten zu spielen und diese dadurch auch zu verändern.

Aber das ist noch nicht alles. Soll das Gehirn optimal arbeiten, dann müssen beide Hirnhälften zusammenarbeiten (interhemisphärische Kommunikation). Entweder arbeiten beide Hirnhälften zusammen oder gar nicht!

Alle naturwissenschaftlichen, sprachlichen, künstlerischen, handwerklichen, technischen Fächer und der Sport sind besonders geeignet, die Entwicklung des Gehirns zu fördern. Aber die Inhalte müssen sorgfältig, trennscharf und sogar engagiert vermittelt werden. Lehrende, die von dem, was sie lehren, nicht überzeugt sind, sollten die Hände vom Unterricht lassen.

Wird nun das Gehirn durch den Hirnvirus infiziert, dann fallen während des Bewusstwerdens von etwas wichtige Kontrollfunktionen aus. Die Aufnahme von Nachrichten wird gestört, die Verarbeitung von Information gehemmt und die Überführung in ein Verhaltensmoment blockiert. Lernen ist nicht mehr möglich.

Werden Verhaltensregeln, Konstruktionsvorschriften, Experimente... wegen mangelnder Kurzeitspeicherressourcen als Daten statt als Programme gespeichert, dann wird das Organisieren von informationellem Verhalten wie Denken und sprachliche Umsetzung zumindest stark gestört.

Das Gehirn reproduziert verfügbare neuronale Verbindungen statt neue zu produzieren. Man kann diese fortwährende Einschränkung auch einfach "Verblödung" nennen, verursacht durch neuronale Hacker bzw. Pseudo- oder Semipädagogen.

30
Mai
2011

Flyer


Der Abt überreicht den Flyer mit der Bitte an die drei Frauen, sich das in Ruhe durchzulesen.

Aberationskriminalität

Unter Aberration wird das Herbeiführen einer geistigen Verwirrung durch gezielte Fehlinformation verstanden. Analog zum Computervirus wird Information so eingesetzt, dass das Gehirn nicht mehr einwandfrei arbeitet.

Beschreibung des Hirnvirus

Information, das ist die praktische Konsequenz aus einer Nachricht. Nachrichten werden vorwiegend schrift- und bildsprachlich übermittelt. Je sorgfältiger Nachrichten aufbereitet werden, desto erfolgreicher sind auch mögliche Schlussfolgerungen.
Nachrichten können unter ungünstigen Umständen Hirnviren übertragen. Diese wirken im Bewusstsein, indem sie wichtige Hirnfunktionen stören oder gar blockieren. Es handelt sich hierbei um einen ganz bestimmten Nachrichtentypus.

Nachrichten, die in der Lage sind, das Hirn mit Viren zu infizieren, müssen das Bewusstsein fehlsteuern können, bevor es eine Nachricht in eine Information umzuwandeln vermag. Diese Manipulation gelingt, wenn vor allem zwei Maßnahmen getroffen werden:

1. Die Nachricht muss eine Folge von Teilnachrichten enthalten, welche das Bewusstsein als Lernschritte deutet.
2. Der erwartete Lernprozess darf nicht in Gang gesetzt werden.
3. Virenverseuchte Nachrichten wirken wie Aprilscherze. Sie führen den Betroffenen in die falsche Richtung. Durch fehlerhafte Unterrichtung zieht das Gehirn des Kindes falsche Schlüsse. Mit anderen Worten: Lehrer sorgen durch ihren Unterricht für Fehlinformationen und hemmen so wichtige Hirnfunktionen für viele Jahre.

Wichtige Funktionen des Kurzzeitgedächtnisses lassen sich schon durch den schlampigen Umgang mit der Sprache stören. Wie ein Hacker durch geschickte programmtechnische Manipulation Hard- und Software stören oder gar zerstören kann, so vermag der Lehrer durch sprachlich schlecht vorgetragene Sachverhalte bestimmte Funktionen im Gehirn einfach zu destabilisieren.

Das Gehirn benutzt erworbene Sprachen, um Inhalte neuronal zu vernetzen. Wer während eines Lehrprozesses schlampig spricht oder schreibt, irritiert das Gehirn so, dass es den Lernprozess fehlerhaft organisiert. Der Hacker verschickt einen Computervirus. Der Lehrer dagegen überträgt einen Informationsvirus.
Informationsviren machen sich in der Regel bei acht- bis neunjährigen Kindern durch plötzlich auftretende tiefe Unlust, zur Schule zu gehen, bemerkbar. Gleichzeitig tritt ein starker Leistungsabfall auf und die Bereitschaft zu aggressiven Handlungen nimmt zu. Diese Symptome scheinen ziemlich unabhängig von der Intelligenz- und Begabungslage der Kinder aufzutreten.

Verantwortlich für das Strukturieren jenes Teils des Gehirns, welchen wir Kurzzeitgedächtnis oder Bewusstsein nennen, ist vor allem die Sprache. Je besser die mündliche und schriftliche Sprachbildung ist, desto trennschärfer geschieht auch die Organisation des Bewusstseins. Umgekehrt lassen sich durch schlechten Sprachgebrauch bestimmte Gehirnfunktionen hemmen oder gar blockieren.

Wie funktioniert das? Um etwas sinnlich und geistig einigermaßen brauchbar erfassen zu können, müssen im Gehirn kurzzeitig mindestens vier ineinander übergehende Prozesse pro Wahrnehmungsmoment ablaufen.

Das Ineinanderfließen von Identifizieren, Interpretieren, Folgern und Beschließen läuft innerhalb eines Augenblicks ab, also innerhalb von etwa drei Sekunden. Jeden Augenblick geschieht das erneut. Alle Bewusstseinsinhalte werden mindestens zweifach festgehalten: sprachlich und bildlich. Worte sind gleichsam neuronale Adressen von Bildern im Langzeitgedächtnis. Jeder erzeugt zu dem Wort „Frühling" Bilder. Diese persönlichen Bilder lassen sich auch wieder zur Sprache bringen. Unser Bewusstsein ist ein Bilderleben, sowohl Bilder-Leben als auch Bild-Erleben, das sind Geschichten, die wir sprachlich fassen.

29
Mai
2011

Warten auf was?


Als Hekate auf ihre Uhr blickt, fangen beide Frauen an zu lachen. Sie warten schon längere Zeit vor dem Institut. Für einen Waldspaziergang fühlen sie sich zu angespannt. Während sich Aesthe eine weitere Zigarette aus ihrer schlecht geöffneten Schachtel angelt, sagt sie verschmitzt lächelnd zu Hekate: „Werfen Sie doch einmal einen Blick auf Ihre innere Uhr, ob die auch wie meine stehen geblieben zu sein scheint!“

Hekate ganz erstaunt: „Ich glaube, sie geht ziemlich nach, weil hier so gar nichts passiert!“

In diesem Augenblick nähert sich ein silbergrauer Mini in schneller Fahrt und bremst scharf vor dem Zaun, der das Institut umgibt. Die Leiterin des Instituts steigt aus, winkt den beiden Frauen zu und ruft: “Bin ich zu spät?“.

„Nein, nein, wir beide sind viel zu früh!“ ruft Hekate zurück. Während Claire Frank auf die beiden zugeht, sagt sie freundlich: „Ach, ich sehe schon Frau Logkat, Sie haben Ihre Praktikantin mitgebracht!“ Dieser Irrtum klärt sich allerdings rasch, als Aesthe Hekate als ihr neue Assistentin vorstellt. Frau Frank ist das sichtlich peinlich und sie entschuldigt sich. „Fassen Sie es als Kompliment für Ihr sehr jugendliches Aussehen auf!“ Sie kann ja nicht ahnen, dass dies für Hekate nun überhaupt kein Kompliment bedeutet. Als die drei Frauen auf den Eingang des Instituts zugehen, dreht sich ein Schlüssel in dem übergroßen, alt erscheinenden Schloss und ein greiser Mönch öffnet: „Seien Sie herzlich willkommen. Es ist alles schon vorbereitet.“ Er führt sie in das Gästezimmer, wo ein köstliches Frühstück auf sie wartet.
Nach dem Frühstück kommt auch der Abt hinzu. „Dann lassen Sie uns das Gespräch mit diesem schwierigen Thema beginnen!“ Der Abt zieht einen dicken Aktenordner aus seiner schwarzen, altmodischen Tasche.

„Bis heute konnte nicht ausfindig gemacht werden, wer eigentlich der Verursacher der langen Kette geistiger Misshandlungen von Kindern ist. Klar ist nur, dass die Umwertung aller Werte durch ein überzogenes Geltungsbedürfnis vollzogen wird. 'Mein Haus, mein Auto, mein Swimmingpool, meine Frau!' Diese Bilder als Belege selbstbefriedigenden Besitz- und Machtstrebens gelten als Ausweise der Erfolgreichen. Nicht zu vergessen der Betrag, den das eigene Bankkonto aufweist. Diese Entartung ist bereits eine der Ursachen für die in der Kindheit erfahrenen Zerrissenheit eigenen Daseins. Es sind dumme, selbst verblödete Lehrer, die so etwas auslösen, weil sie nur die eigene Existenz sichern wollen, statt Kinder zu lieben. Kinder, die aber nicht geliebt werden, können geistig nicht wachsen, nicht auf sich hoffen, sich selbst nicht glauben und so sich auch selbst nicht lieben. Geraten sie in die Politik, dann entartet solches Unvermögen in reines Machtgehabe!"

"Und wie kann man dieser unheimlichen Entwicklung entgehen?" unterbricht Hekate den Abt.

"Da hilft allein radikale Askese durch ein kompromissloses Loslassen alles Überkommenen! Um dieses Loslassen zu ermöglichen und selbst wieder zu glauben, verbringen wir Mönche unser Leben vorwiegend schweigend!"

Hekate bemerkt lächelnd: "Das würde ich niemals aushalten. Ich käme vor Langeweile um!"

Der Abt betrachtet die junge Frau, die eher noch das Aussehen eines jungen Mädchens hat, sehr eingehend und sagt dann, ihr zugewandt, sehr verständnisvoll:

"Ihre Schönheit ist nicht äußerlich, sondern kommt vor allen von innen. Sie können das aufgrund von Erziehung missverstehen, indem Sie versehentlich nur das Äußere pflegen. Aber das tun Sie nicht, weil Sie sich in dem, wie Sie sich erscheinen, gefallen. Es gibt keinen Grund, solches Selbstgefallen loszulassen. Solange Sie sich glauben, lassen Sie los und nichts kann Ihnen anhaften!"

Hekate versteht zwar nicht alles, aber errötet sichtlich, vielleicht vor Verlegenheit. Fühlt sie sich ertappt?

Lethe Logkat unterbricht diesen Dialog mit der Bitte, die Kritik vielleicht noch einmal in einem Satz auf den Punkt zu bringen!

"Meine Anzeige bezieht sich auf Kindesmissbrauch durch Virusinfektion aufgrund gezielter Fehlinformation! Ich habe für Sie Stichworte dazu sammeln lassen!"

28
Mai
2011

Die innere Uhr


Aesthe Logkat entschließt sich, früher aufzubrechen. Sie möchte sich davon überzeugen, ob die viel gelobten Predigten des Abtes auch ihr Interesse wecken werden. So kommen die beiden gut zwei Stunden vor der Zeit an. Das Institut, in dem sie erwartet werden, ist noch geschlossen. Und tatsächlich nutzt Aesthe die Zeit und begibt sich mit Hekate in die kleine Kirche des Klosters. Der Zelebrant ist gerade dabei, mit seiner Predigt zu beginnen.

"Viele von Euch haben mich gebeten, noch einmal über die gestohlene Zeit zu sprechen. Viele, besonders ältere Menschen, werden das Gefühl nicht los, dass ihnen immer mehr Zeit gestohlen wird. Sie behaupten sogar, dass ihre Tage immer kürzer werden. Und tatsächlich ist es so, dass auch im Lebensherbst die Tage kürzer werden. Es existieren überhaupt viele Parallelen zwischen physischer und metaphysischer Natur, aber auch ebenso viele Missverständnisse. So trifft man immer noch, wenn es um die Entstehung der Jahreszeiten auf unserer Erde geht, auf eine falsche Annahme wie die folgende:

Da unser Planet sich auf einer elliptischen Bahn um die Sonne bewegt, sind wir unserem Stern im Sommer näher und im Winter ferner - und daraus entstünden die Temperaturunterschiede. Dem ist aber durchaus nicht so ! Im Gegenteil - die Sonne ist in den Wintermonaten der Nordhalbkugel sogar näher.

Ebenso wenig trifft die Annahme über den Zusammenhang von Altern und Zeit zu. Aber vorweg noch die Richtigstellung:

Die elliptische Bahn der Erde ist verantwortlich für die Länge der Jahreszeiten: an ihrem sonnenächsten Punkt bewegt sich unser Planet etwas schneller als an ihrem sonnenfernsten. Diese Gegebenheit ruft nicht nur die Jahreszeiten an unserer Oberfläche hervor, sondern bestimmt auch die Höhe der Sonne über dem Horizont, legt die Daten für Tages- und Nachtgleichen fest und erzeugt zum Großteil die klimatischen Besonderheiten auf unserem Planeten.

Der Frühlingsanfang liegt auf dem 21. März. Beide Pole sind von der Sonne gleich weit entfernt, sie selbst steht auf dem Himmelsäquator und beginnt ihn in Richtung Norden zu überqueren. Für alle Äquatorgebiete auf der Erde verläuft die Sonnenbahn an diesem Tag entlang des Horizontes. An allen anderen Orten herrscht Tag und Nachtgleiche, d.h. die Sonne steht für 12 Stunden unter und für 12 Stunden über dem örtlichen Horizont.

Am 21. Juni bewegt sich die Sonne auf ihrem nördlichen Wendekreis. Auf der Nordhalbkugel beginnt der Sommer. Wir haben Sommersonnenwende und den längsten Tag des Jahres. Die kürzeste Entfernung zwischen Sonne und dem Nordpol ist erreicht.  An den Orten des nördlichen Wendekreises steht die Sonne Mittags genau im Zenit. Am 23. September wiederholen sich die Eigenschaften des Frühlingsbeginns, nur dass die Sonne diesmal den Himmelsäquator nach Süden überschreitend erreicht. Wieder herrscht Tag und Nachtgleiche. Der Herbst beginnt. Die Sonne geht gegen 6 Uhr im Osten auf und gegen 18 Uhr im Westen unter.

Die physikalischen Eigenschaften der Sonne lassen sich, wie gesagt, auf die metaphysikalischen Eigenschaften der inneren Sonne übertragen, ein Vergleich der schon dem Philosophen Platon in den Anfängen unserer Kultur nicht fremd ist.

Im Lebensfrühling laufen die neuralen Zyklen im Gehirn sehr viel schneller ab, und es stehen auch mehr Transmitter zur Verfügung. Da die Zeit die Abfolge von Ereignissen darstellt und die Zeit als Geschwindigkeit empfunden wird, werden auch die schnell aufeinander folgenden Ereignisse als viel Zeit empfunden. Da das Zeitempfinden also im Verhältnis zur Anzahl der stattfindenden Ereignisse steht, hat der Mensch in frühen Jahren seines Lebens im Gegensatz zur Uhrzeit mehr Erlebniszeit zur Verfügung als in späten Jahren des Lebens. Im Alter läuft die Lebensuhr langsamer und erzeugt daher das Empfinden, weniger Zeit zu haben. Und woher rührt dieses veränderte Verhalten der Lebensuhr?

Im Lebensfrühling überschreitet das Bewusstwerden und damit das innere Licht die Grenze zwischen linker und rechter Hemisphäre und bewegt sich auf die linke Hemisphäre zu. Die Vernunft erwacht, wächst und der Einfluss des Gefühls wird schwächer. Mit der Zunahme der Vernunft aber beschleunigt sich die Organisation von Bewusstseinsinhalten. Der Mensch gewinnt für Jahre den Eindruck, möglich viel in möglichst wenig Zeit erreichen zu müssen. Da sich Intensität aus dem Verhältnis von Energie und Aufgaben ergibt, entsteht auch das Gefühl, viel zu erleben, obgleich oft viel Energie an weniger sinnvolle Aufgaben verschwendet wird. Während in jungen Jahren körperliche, seelische und geistige Kräfte noch gebündelt werden, triften diese mit zunehmenden Alter immer mehr auseinander und beanspruchen dadurch zugleich auch zunehmend mehr Aufwand. Je mehr aber diese Kräfte sich splitten, um so höher wird der Verschleiß. Das innere Licht kehrt sich in seiner Fortbewegung um. Das innere Licht bewegt sich wieder auf die rechte Hemisphäre zu und die Hektik der linken Hemisphäre nimmt ab. Da sich aber das rechtshemisphärische Wahrnehmen eher gefühlsmäßig vollzieht, werden die sogenannten vernünftigen Dinge nicht mehr so beachtet; sie werden folglich mit geringerer Wachheit aufgenommen und infolgedessen gleichsam übersehen. Es entsteht der Eindruck, weniger zu erleben, und somit verkürzt sich auch die erlebte Zeit. In Wahrheit handelt es sich hier um eine Täuschung, die allein auf einem Wahrnehmungsfehler beruht. Die Wahrnehmung der linken Hemisphäre beinhaltet vor allem das Werden, während sich das Wahrnehmen der rechten Hemisphäre auf das Sein konzentriert. Diese Konzentration aber verbraucht mehr Zeit. Gleichzeitg verlangsamen sich die körperlichen Vorgänge.

Die Bäume verlieren im Herbst ihr Laub, weil neue Knospen nachdrängen. Alte Gewohnheiten verlieren an Bedeutung, weil neue Ideen keimen. Und genau das wird übersehen, weil wir den Blick für das Wesentliche verloren haben. Aber das Wesentliche bleibt nun einmal für die Augen unsichtbar. Deswegen ist es auch fatal, Gott mit den Sinnen aufspüren zu wollen. Er existiert nun einmal für die linke Hemisphäre nicht. Die rechte Hemisphäre aber speist ihr Wissen allein aus dem Glauben. Sie ist allein in der Lage, Gott aufzuspüren. Und im Alter liegt die Chance, dieses Gespür des Herzens zu nutzen. Wir dürfen im Alter die Zeit nicht mit der Stoppuhr messen. Die Zeit des Alters vermögen wir allein an der inneren Uhr abzulesen. Diese aber zeigt Ideen statt Ereignisse an. Folgen Sie diesen Ideen und sie gewinnen die (scheinbar) verlorene Zeit wieder zurück!“


Aesthe schaut Hekate erstaunt an. Beide entschließen sich, einen Spaziergang zu machen, um über diese Predigt  zu sprechen.

27
Mai
2011

Nur Vermutungen?


Aesthe ist froh, dass ihr das Wochenende Zeit schenkt, um über das merkwürdige Geschehen nachzudenken. Sie beschäftigt sich mit dem Phänomen der Parallelwelt. Sie ist offen genug, zu erwägen, ob sich der Fall, mit dem sie sich beschäftigt, nicht in einer Art Paralleluniversum abspielen könnte. Sie überlegt aber auch, ob ihr möglicherweise ihre Vorliebe für Science-Fiktion einen Streich spielen könnnte.

Sie erinnert sich an das Gespräch mit der Parapsychologin aus dem Institut für Grenzgebiete. Um sich abzulenken, beschließt sie, erst einmal zum Wochenmarkt zu gehen, um dort Spargel und Erdbeeren zu kaufen. Dort trifft sie an einem der Gemüsestände ihre neue Assistentin Hekate Nekromans. Die sehr attraktive junge, sehr intelligente Frau, eine gebürtige Athenerin, gefällt Aesthe sehr und sie ist froh, sie als ihre Assistentin genommen zu haben. Hekate ist ebenso überrascht, als sie Aesthe erblickt und begrüßt sie freudig mit einem Lauchbündel, das sie nicht loslassen kann. „Ach, Porree könnte ich auch mitnehmen!“, sagt Aesthe. „Freue mich, Sie zu treffen. Was für eine nette Überraschung!“, erwidert Hekate. Aesthe drückt durch ihr offenes Lachen aus, dass sie genau so empfindet.

Wenig später sitzen die beiden Frauen bei Kaffee und Zigaretten in einem Cafe am Rande des Marktplatzes. Die Uhr des Rathausturmes gegenüber zeigt, dass es erst 10 Uhr ist. „Den Fall, an dem Sie gerade arbeiten, finde ich ja sehr spannend!“, schwärmt Hekate und setzt dann fort: „In der Akte finde ich ja alles genau beschrieben!“ Aesthe fragt Hekate nach ihrer Einschätzung. „Es leuchtet mir ein, was der Abt in seiner Anzeige gegen Unbekannt beschreibt, und ich verstehe auch, dass nur Mönche eines beschaulichen Ordens so etwas überhaupt entdecken können. Ich meine aber, dass die Fakten, mit denen er das Vergehen belegt, nicht ausreichen, weil er letzlich nur Vermutungen anstellt. Kurzum denke ich, dass uns Beweise für so etwas fehlen!“

„Nach dem, was ich weiß, wären hierfür Langzeitstudien erforderlich, da sich die Auswirkungen dieser geistigen Misshandlungen ja erst im Erwachsenenalter bemerkbar machen!“

„Warum lässt sich hier denn nicht so verfahren wie bei köperlichen Misshandlungen, bei denen man sich ja auch lediglich auf Symptome stützt?“, fragt Hekate.

„Das würde voraussetzen, dass geistige Misshandlungen überhaupt unmittelbar fassbare Symptome zeigen! Das ist aber meines Wissens nicht der Fall. Jedenfalls werde ich doch vorsichtshalber darüber noch ein Gespräch mit dem Abt, gemeinsam mit der Leiterin des Instituts für Grenzgebiete haben. Wenn Sie Interesse haben, mitzukommen, nehme ich Sie sehr gerne mit.“

„Das können Sie sich doch denken, dass mich das sehr interessiert!“, betont Hekate.

„Gut, dann kommen Sie gerne mit!“

26
Mai
2011

Einstellung


Die Kommissarin entschuldigt sich sehr bei der wartenden jungen Frau für die große Verspätung und bittet sie in ihr Büro. Unter all den vielen Bewerberinnen wählt Aesthe Logkat diese junge Frau aus, die ‘auf den ersten Blick’ für die freie Stelle am wenigsten geeignet zu sein scheint. Sie hat nicht Kriminologie, sondern Kunst studiert, und sie kommt von keiner Polizeischule, sondern aus einem Universitätsinstitut. Hekate ist zudem die einzige Bewerberin, die bei ihrer Vorstellung geraucht und ganz offensichtlich ihrem äußeren Erscheinungsbild wenig Zeit gewidmet hat.

Hekate macht auf Aesthe Logkat sogar den Eindruck, dass sie ihre Bewerbung gar nicht sonderlich ernst nimmt. Trotzdem entscheidet sich Aesthe Logkat intuitiv für diese junge Frau.

Den starken Bedenken ihrer Kollegen gegenüber entgegnet Aesthe, dass sie jemanden braucht, der sich nicht auf ausgetretenen Pfaden in ihr Büro schleppt, sondern dringenst eine Person, die ihre Untersuchungen völlig unvoreingenommen zu kritisieren vermag. Angesichts Logkat’s großer Erfolge verstummen nach und nach alle Einwände und Hekate wird eingestellt.

25
Mai
2011

Nicht (s) genutzt


„Sie sehen reichlich verstört aus! Sie sind doch hoffentlich nicht krank! Oder doch?“

Der Assistent verneint, und ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass er bereits vor zwei Stunden im Büro hätte sein müssen. Es ist ihm sehr peinlich, dass ihn seine Chefin so findet. Warum steht sie überhaupt vor seiner Tür? „Ist etwas passiert?“ fragt er sie, noch immer sichtlich verwirrt.

„Das kann man wohl sagen!“ erwidert sie, und er merkt, dass sie die Situation so wenig versteht wie er selbst. „Ich bin heute morgen kaum in meinem Büro, da erhalte ich telegraphisch eine Nachricht von Abt Gernot Seibel von Ihrem Verschwinden. Obwohl im ganzen Kloster nach Ihnen gesucht wird, bleiben Sie unauffindbar. He, was haben Sie in Mariawald zu suchen? Und warum halten Sie die Mönche dort für einen ihrer Mitbrüder?“

Er winkt ab, und gibt zu, dass er von solchen Besuchen immer wieder träumt. Jetzt greift die Kommissarin zum Handy, um anzurufen. Die Stimme eines Mannes meldet sich. Die Kommissarin: „Aesthe Logkat, Herr Abt, hier ist Ihr Mitbruder Frederic!“ Sie drückt ihm das Handy in die Hand. Frederic, ganz verunsichert „Hier ist Frederic. Ich weiss nicht, was ich sagen soll!“ Der Abt spricht jetzt so laut, dass ihn die Kommissarin verstehen kann. „Lassen Sie bitte den Unfug! Sie sind nicht unser Mitbruder Frederic!“, und er legt auf. Frederic gibt ihr das Handy zurück.

24
Mai
2011

Quelle eines Ursprungs


In der gefrorenen Hoffnung der inneren Stille scheint auch die schöpferischste Quelle eines rettenden Auswegs zu erstarren. Der Alte, von der Last seines Lebens in sich zusammengesunken, kauert vor dem Nichts unverwirklichter Möglichkeiten. Es ist die Seinsstelle, die das Leben für ihn vorgesehen hat. Dem Alten, der vermeintlich vor dem Nichts steht, fällt plötzlich ein bläulicher Lichtschein auf, der hinter dem Horizont seines Daseins hervorscheint. In den Höhen möglicher Möglichkeiten verdichten sich wirkliche Möglichkeiten zu einer Vision von einer Zukunft wirklicher Möglichkeiten gleich einer Sonne der altphilosophischen Ideenwelt.

Der Alte erhebt sich, um wieder Blickkontakt mit der Wirklichkeit aufzunehmen. Er spürt seine Kräfte wieder und zweifelt jetzt, ob ihn nicht nur dunkle Bilder überwältigt haben. „Du bist so alt wie du dich fühlst!“ hört er eine Stimme aus dem Hintergrund des Augenblicks. „Das ist wahr!“ murmelt er. „Dein Körper glaubt das und versucht, sich in dieser Wahrheit einzurichten!“ fügt die Stimme flüsternd hinzu. Jetzt wird ihm klar, dass er der Gefahr entkommt, sich gehen zu lassen.

Jetzt erwacht er, und der Traum verflüchtigt sich. Er sinnt dem Geträumten noch nach während er sich auf den Tag vorbereitet. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, denn die Angelus-Glocke ruft bereits zu den Vigilien, der ersten der täglichen Gebetszeiten.

Es ist 5 Uhr morgens, als er die Klosterkirche betritt und sich zum kunstvoll geschnitzten Chorgestühl der Mönche begibt. Das geschieht nicht ohne Furcht, denn das gestrige Geschehen ist ihm noch sehr gegenwärtig. Wenn ihm das heute erneut widerfährt, wird er sich wohl an seinen alten Novizenmeister wenden. Aber während des Chorgebets hüllt ihn erneut dieses seltsame Licht ein. Das augenblickliche Geschehen entzieht sich ihm. Er sieht sich selbst mit den anderen in die Gebete und Gesänge der Vigilien vertieft. Nichts, das auffällig wäre. Und wieder nähert sich ihm diese merkwürdig jugendliche, bläulich verhüllte Lichtsgestalt, die ihn in seine Erinnerungen entführt. Er findet sich in der Trostlosigkeit seiner frühen Jugend wieder. Er geht den kleinen, von Trauerweiden fast verborgenen Fluss entlang. Das bescheidene Flüsschen, das nichts mehr von seiner geheimnisvollen Quelle verrät und unter falschem Namen seiner Mündung zufließt, beruhigt ihn und lädt ihn in seine Gedankenwelt ein. Dem in seinen Erinnerungen versunkenen Novizen kommt der Gedanke, dass er doch als Junge eigentlich nie an diesem Flüsschen entlang ging. Aber eine tiefere Erinnerung widerlegt das und zeigt ihn auf seinem uralten Damenfahrrad, wenn er gerade keine Lust zu gehen hat. Und ihm fällt ein, dass der Weg zum Schlachthof dort verläuft. Einmal pro Woche muss er dort das Fleisch für den Führhund des Vaters abholen. Er wischt diese Erinnerung beiseite und fragt sich, wer oder was ihn die Aach, alias Donau, entlang führt. Was soll ihm dieses hervorgeholte Bild denn Wichtiges zeigen? Vielleicht ist dort ein vergessener Gedanke wieder zu entdecken, der aus irgendwelchen Gründen weiterhilft.

Jetzt tritt die Lichtgestalt aus ihrer Verschleierung hervor und erkärt ihm, dass sie Mnemosyne und die Göttin der Erinnerung ist.

„Was willst du als heidnische Göttin inmitten eines christlichen Geschehens?“

„In der Welt jenseits eines in sich verfangenen und gefangenen Denkens haben alle wichtigen Geschehen Namen. Und die Namen von Gottheiten schenken dir die Möglichkeiten zu glauben! Dein Gott ist ja auch nur da, damit du glauben kannst!“

„Und was willst Du, woran ich glauben soll?“

„Meine Schwester Lethe und ich bestimmen, was als Sosein im Dasein vergessen und was erinnert wird. Wie nach Lethe, so benennt der Mythos auch nach mir einen Fluss, nämlich Mnemosyne, den Fluss des Erinnerns. Wer aus diesem Strom des Unterbewussten trinkt, wird sich an alles erinnern und mit Weisheit ausgezeichnet. Mit „alles erinnern“ meine ich selbstverständlich das „Wiedererinnern“ dessen, was in der Natur als existentiell Hervorscheinendes für das Leben zu entdecken und zu lernen ist. Nehme nur eimal den Regen wahr und betrachte, welche Bewegungen das Wasser macht: es fließt zusammen, um sich zu sammeln, es fließt auseinander, um sich zu verteilen. Auf kaltem Boden verdichtet sich das Wasser zu Eis und es löst sich wieder auf und taut, wenn sich der Boden erwärmt. Das Wasser zeigt Dir also die vier Grundbewegungen der Natur: hinzufügen oder wegnehmen und verdichten oder lösen. Und wenn du deine innere Natur betrachtest, kannst du diese Bewegungen auch vor dem inneren Auge sehen. Wie Du weißt, brauchst du nur nach innen schauen und dich umsehen. So entdeckst du innen, was du auch außen wieder entdecken kannst...“

„Was mir erscheint, das kann ich nicht weitersagen. Niemand wird mir das glauben, was ich denkend schaue, weil ich es weder anderen zeigen noch ihnen beweisen kann!“

„Hälst Du das selbst denn für wahr?“

„Ich kann das nicht recht glauben, weil ich nichts davon spüre!“

Intuitiv erfasst der Novize, dass er einen Fehler macht, während sich die Lichtgestalt zunehmend schneller auflöst und der Novize ins Chorgebet zurückkehrt.

Die Glocke läutet zum Ende der Vigil und er erwacht aus seinem Traum einer möglichen Wirklichkeit!

23
Mai
2011

Lethe

 
Wer aus dem Fluss Lethe, ἡΛήθη, das Vergessen, trinkt, vergisst alle seine Erinnerungen und gelangt in die Gegend der Unverbindlichkeiten. Nur unvoreingenommen vermag er für das Wahre offen zu sein. Die Wahrheit ist ein Geschehen, das sich in den Tiefen der Seele ereignet und dem erscheint, der in die Stille seiner Seele einkehrt. Dort nimmt er die Bilder der Seele wahr, und er betrachtet sie, um zu sehen, bei welchen er verweilen will, weil er sie liebt. Das Vertrauen in das, was sie ihm zeigen, ist groß genug, so dass er diesen Inhalten Glauben schenkt. Wem die Gabe des Schöpferischen verliehen ist, dem kann vielleicht eine Idee in der Gestalt eines göttlich lichten Wesens erscheinen und mitteilen, was in Sprache, Musik, Architektur oder Malerei aufgezeichnet werden soll. Manche Menschen wie beispielsweise Bernadette Soubirous aus Nevers an der Loire, Hildegard von Bingen oder auch Franziskus von Assisi haben den Mut, anderen mitzuteilen, was ihnen geschehen ist. Jeder muss für sich allein erkennen, was sich da ereignet, und entscheiden, ob er über den Mut verfügt, das mitzuteilen, was er gesehen oder gehört hat. Sokrates nennt das, was er in sich hört innere Stimme (gr. Δαιμονιον), und er folgt ihr sogar, als sie ihm rät, den Giftbecher zu trinken.

Wann immer Bereitschaft besteht und Ideen gewollt werden, erscheint die innere Stimme je nach Begabung und Fantasie in Gestalt oder gestaltos, um das Erhoffte zu verschenken.
 

22
Mai
2011

Ohne Zweifel wahr


Im Gegensatz zur Richtigkeit lebt Wahrheit vom Glauben. Wahrheit lässt sich also nicht gedanklich herstellen und somit auch nicht logisch beweisen. Wahrheit offenbart sich, um geglaubt zu werden. Wahrheit ist nicht für jene da, welche etwas wissen wollen. Wahrheit braucht Geschichten und keine Definitionen, um aufgenommen werden zu können. Der Wahrheitsgehalt hängt einserseits von seiner Glaubwürdigkeit ab, andererseits von der Glaubenskraft des Gläubigen.

Analog zu den Phasen des Bewusstwerdens, um nachdenken zu können, existieren Phasen des Bewusstwerdens, um glauben zu können:

o Wahrnehmen,
o Betrachten,
o Hoffen,
o Lieben,
o Glauben.

Sinnesreize, die ins Gehirn gelangen, bewegen sich als Impulse durch verschiedene Areale des Großhirns. Visuelle Reize bewegen sich beispielsweise in der Sehrinde des Hinterkopfs. Die Bewertungen werden dem Schläfenlappen zugeführt und dort in Sprache überführt. Die Impulse erfahren gefühlte Bedeutungen. In den tieferen Regionen dieses Hirnlappens werden Wut, Ekel, Glück oder auch Gleichgültigkeit ‚wach’. Das Ziel der Sinnensimpulse sitzt noch ein kleines Stück tiefer in einem Gebilde, das wegen seiner Form Hippocampus („Seepferdchen“) genannt wird. Im Hippocampus werden gleichsam Spreu und Weizen getrennt, indem nur das ausgewählt wird, was wichtig erscheint. Der Hippocampus ist wie ein Regler oder Zensor, der entscheidet, was bewusst werden darf. Zu viel Dopamin führt wahrscheinlicher zu Visionen oder Halluzinationen, zu wenig aber zur Fantasielosigkeit und Entscheidungsunlust.

21
Mai
2011

An den Grenzen des Logos


Das Überschreiten der logischen Grenzen bedeutet, gewohnte Ordnungen zu verlassen und herkömmliche Orientierungsmöglichkeiten aufzugeben. Grenzüberschreitungen sind in der Philosophie mehrfach geschehen. Wie gesagt, Platon vergibt dafür sogar einen Namen, nämlich „idein“ (ιδειν). Diese Idee wird allerdings philosophisch als nicht sehr befriedigend empfunden und so auch nicht weitergeführt. Man akzeptiert zwar bis hin zu Martin Heidegger die Existenz des inneren Lichts, aber begnügt sich damit, dieses als Lohn der Einsicht, der das Denken sogar zu einem Fest werden lässt, zu erfahren.

Aristoteles, der Schüler Platons, versucht einer möglichen Verwirrung durch mythische Irrlichter vorzubeugen, indem er feste Grenzmarken errichtet. Axiome sollen verhindern, festen Boden zu verlieren. Aber ausgerechnet Axiome leben von purer Glaubwürdigkeit. Sie erscheinen so glaubwürdig, dass man sie einfach lieb haben muss. Dass Aristoteles damit die Grenzen jeglicher Vernunft überschreitet, überspielt er mit einer weiteren genialen Installation, der er den Namen „Sein“ gibt.

Aber durch das Sein als Wesen alles Seienden verstrickt er sich noch tiefer in den schönen Schein des Ausserirdischen. Noch zwei Jahrtausend später feiert ihn Martin Heidegger für diese seine künstlerische Leistung. Aber Heidegger hat sehr wohl noch das Geschrei Zarathustras in den Ohren. Das wirkt wie ein Tinnitus und lässt ihn nicht nur nicht in Ruhe, sondern er wird dadurch sogar so stark abgelenkt, dass er auf dem metaphysischen Weg ins Stolpern gerät. Dieser Weg entpuppt sich als Holzweg, der in den Rückgang der Metaphysik in ihren eigenen Grund führt. Das ist nichts Anderes als die philosophisch verbrämte Umschreibung einer Kapitulation.

Ganz anders Immanuel Kant, der sich das tradierte Denken anschaut und dessen Herkunft von vornherein als Gegebenheit a priori betrachtet. Kant ist dabei sehr wohl klar, dass er, die Vernunft kritisierend und in ihre Schranken weisend, die Grenzen des Logos überschreitet, um sich auf die Intuition zu verlassen. Kant zeigt die Grenzen der Vernunft auf und vor allem deren Bezug auf Systeme vor allem Bewusstwerden. Kant bewegt das Sein aus dem Zugriffsbereich der Vernunft in den Bezirk vor aller Erfahrung. Damit schafft er eine Grundlegung der Physik, die über jeden Zweifel erhaben ist.

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Prof. Dr. habil Wolfgang F Schmid

Grundsätzliches (www.wolfgang-schmid.de)

 

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