„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“
Was Paul Klee über die Kunst sagt, das gilt auch sowohl für die Philosophie als auch die Mathematik (altgriechisch μαθηματική τέχνη mathēmatikē téchnē ‚die Kunst des Lernens).
Als inneres Schauen ermöglicht das Denken das Sichtbar werden jener Vorgänge, welche sich vollziehen, bevor sie bewusst werden.
Alles das, was über das Denken in Erfahrung gebracht werden kann, leistet das Denken selbst.
Das philosophische Bilderleben kann jedoch erst dann und nur dann erfahren werden, wenn es dem Verstand gelingt, hoch konzentriert zu abstrahieren.
Die vier Leseübungen im vorigen Kapitel dienen dazu, erste Erfahrungen hierin zu ermöglichen.
Zwei Wiederholungen:
Vernunft ⟷ Intuition = Begabung
Verstand ⟷ Definition = Intelligenz
Wenn es gelingt, sich diese Wechselbeziehungen wirklich anschaulich vorzustellen, dann ist jenes Abstraktionsniveau gegeben, welches Denken als Schauen inneren Bilderlebens ermöglicht bzw. verstehen lässt.
Ist die Vernunft durch eine Idee inspiriert worden, dann versucht der Verstand einen Weg (ὁδός (hodós)) zu entdecken, auf dem (μετά (metá)) sich diese Idee verwirklichen lässt.
Als Weg oder Gang einer Untersuchung“ (eigentlich: Weg zu etwas hin) gilt jede Methode (μέθοδος (méthodos)) als Mittel zum Zweck der Markierung einzelner Schritte, systematisch vorzugehen.
Idea (ἰδέα idéa „Gestalt“ bzw. Erscheinungsbild von etwas) gilt als Innenbild, das die mögliche Entwicklung einer Methode zeigt bzw. deren Verwirklichung antizipiert.
Der Philosoph Platon nennt diese vorstellungsmäßige Vorwegnahme deshalb ἰδέἰv, ideín. Als innere Anschauung ermöglicht ideín Bilder, die vom inneren Auge betrachtet werden können.
Innere Bilder: können visueller, akustischer, olfaktorischer, haptischer und geschmacklicher Natur sein, also alles darstellen, was auch sinnlich erfahren werden kann.
Je stärker bzw. lebendiger innere Bilder ausgeprägt sind, desto stärker ist ihr Einfluss auf das Verhalten. Solche Gedächtnisbilder beeinflussen das Verhalten, weil sie in einer Entscheidungs- oder Handlungssituation spontan abgerufen werden und sich durch Anschaulichkeit und emotionale Ausstrahlung stärker auswirken als sprachliche Formulierungen.
Innere Bilder wie z.B. „Vernunft ⟷ Intuition = Begabung“ lassen sich in ihrer symbolischen Vereinfachung nur schwer sprachlich fassen, weil Anschauung und deren Überführung in einen sprachlichen Ausdruck nicht wirklich kongruent zu gestalten sind.
Das wird besonders deutlich angesichts einer inneren Anschauung wie beispielsweise „Liebe“. Hier versuchen Symbole wie Herzen oder rote Rosen Formulierungsschwierigkeiten zu überbrücken. In etwa vergleichbar sind Smilies.
Im Grunde stehen drei Arten und Weisen des reflektierten Ausdrucks zur Verfügung:
Wort,
Symbol,
Zahl,
wobei alle dreien symbolischen Wert zukommen kann wie zum Beispiel „sehr gut oder * oder 1“.
Akribisch beobachtet unterscheiden sich aber doch die inneren Anschauungen aufgrund des sprachlichen, symbolischen oder numerischen Ausdrucks.
Von allen drei Ausdrucksarten ist die symbolische höchstwahrscheinlich die emotionalste Vergegenwärtigung.
Das Zusammenspiel von Vernunft und Verstand ist eine von Natur aus gegebene Wechselwirkung, die sich bei Lebewesen schon früh in ihrem Entdeckungsdrang zeigt.
Dieser führt bei Kindern dazu, ihre Eltern unermüdlich mit ihren Fragen zu beschäftigen. „Wer wie was warum, wer nicht fragt bleibt dumm“ heißt es im Titel-Lied der Sesamstrasse.
Fragen initiieren sprachlich das Suchen der Vernunft und das Organisieren der Antwort durch den Verstand.
Je genauer eine Frage formuliert wird, um so wahrscheinlicher wird es, dass der Verstand eine Antwort findet.
Sprachbildung ist deshalb Bedingung der Möglichkeit erfolgreicher Forschung.
Die sprachliche Formulierung markiert den Weg des Denkens. Als Bilderleben wird dieser Weg durch die Fantasie zumeist intuitiv gestalterisch entworfen. Ein Erfolg versprechender Entwurf nimmt die Verwirklichung vorstellungsmäßig vorweg.
wfschmid - 14. Juni, 10:01