Unilogo

10
Jun
2014

Parallelität von Lernen und Denken

Lernen durch Imitation bedeutet Änderung des Verhaltens aufgrund von Beobachtungen. Viele Kinder beobachten ihre Mutter so lange beim Kochen, bis sie ein einfaches Gericht nachkochen können oder sie spielen Situationen aus dem Fernsehen nach und imitieren Rollen. Viele Jungs wollen Bad Man oder Superman sein.

Ich lernte meinen Vater führen, indem ich beobachtete, wie sein Führhund vorgeht. Der Schäferhund Rolf bleibt zum Beispiel stehen, bevor er über die Straße oder eine Treppe führt. Durch Tasten mit seinem Stock erkennt der Blinde sofort den Grund. Beobachten der beiden Momente „Stehen bleiben“ und „Tasten“ verbinden sich zum Gedanken einer Handlungsanweisung, nämlich „hinauf-, hinuntersteigen oder Straße überqueren“.

Das Binden (verbinden) von Beobachtungsmomenten wie „Stehen bleiben“ und „Tasten“ zur Schlussfolgerung „Strasse“ oder „Treppe“ ist sicherlich zugleich auch ein Moment des Denkens, wobei das Ertasten mit dem Blindenstock sofort über die Alternative „Strasse“ oder „Treppe“ entscheidet, denn im Gegensatz zu einer Treppe geht es bei einer Strasse nach dem ertasteten Absatz eben und nicht etwa auf- oder abwärts weiter.

Tatsächlich aber war für meinen Vater solch aufwendiges Tasten in der Regel nicht notwendig, denn er kannte ja die Strecken, die der Hund ihn führte. Zudem gab ja die hörbare Umgebung oder Geräuschkulisse zusätzliche Information zu einem Ort bzw. zu einer Stelle.

Aus der Beobachtung gelangt also Denken als Binden oder Verbinden (zu einem Zusammenhang) zum Vorschein.

Und mir erscheint es ab dieser Erkenntnis zweckmäßig und hilfreich, überliefertes und eigenes Denken, das sowieso schon immer in überkommenen Bahnen verläuft, zusammen zu führen.

Um eine leichte Übersicht zu ermöglichen, werden ich der Einfachheit wegen alphabetisch vorgehen.

9
Jun
2014

Lehrerbilder

REKTOR SALKOSKY


Mein erstes Schuljahr fiel in die Zeit 1950/51. Rektor Salkosky begrüßt seine ABC-Schützen in der Zeppelinschule Singen am Hohentwiel. Ich erinnere mich noch sehr genau an die ersten Minuten meiner Schulzeit. Wir Kinder wurden aufgefordert ruhig zu sein, still zu sitzen und die Hände auf die Schulbank zu legen. Ich war derartige Kommandotöne überhaupt nicht gewohnt. Ich flüsterte meinem Nachbarn protestierend, wohl etwas zu laut zu "Der Salkosky ist ein Arschloch!" Zur Strafe schickte mich Rektor Salkosky erst einmal vor die Tür. Aber dort wartete ich natürlich nicht, sondern haute ab, um mir in der Gegend die Zeit zu vertreiben. Und das tat ich auch die folgenden Tage. Da nutzten alle Strafandrohungen und tatsächliche Strafen nichts. Ich erinnere mich nicht mehr, wie es dazu kam. Jedenfalls fand ein Gespräch zwischen diesem Rektor, meinem Vater und mir als Übeltäter statt. In diesem Gespräch überredete mich Rektor Salkosky zu folgendem Deal: "Ein Fleißzettel für einen Tag Schulbesuch. Bei zehn Fleißzetteln könnte ich einen Tag ungestraft fehlen!"

Auf diesen Deal ließ ich mich ein, mit dem Erfolg, dass ich keine Lust mehr zum Schwänzen hatte, weil ich den Unterricht interessanter als das Herumtreiben fand.



LEHRER BÜRGESSER


Wenn ich an meinen Lehrer Bürgesser denke, sehe ich ihn sofort mit seiner Geige vor mir. Ich denke an seinen wöchentlichen Musikunterricht nachmittags, den wir Kinder freiwillig besuchen konnten. Herr Bürgesser war bei uns sehr beliebt. Sein Unterricht fand meistens außerhalb des Klassenzimmers statt. Biologie in der Natur oder Mathematik in den Tante Emma Läden der Umgebung, Sachkunde auf der Post, im Bahnhof, auf dem Markt oder einen Tag auf einem Bauernhof. Herr Bürgesser machte mit uns viele Ausflüge und Wanderungen. In seinen Unterricht brachte er immer tolle Materialien mit, die wir auch behalten durften. In dem großen Sandkasten, den er in unserem Klassenzimmer aufbauen ließ, modellierten wir unsere Heimat in Miniaturlandschaften wie den Hegau, die Höri, den Bodensee oder den Schwarzwald.


Aber unser Lieblingsprojekt blieb die Landgewinnung an der Nordseeküste in Schleswig-Holstein. Kein Wunder also, dass sich alle Kinder in der wöchentlichen Musikstunde drängten. Herr Bürgesser beeindruckte uns sehr mit seinen Geigensolis und seinem Ein-Mann-Theater, mit dem er uns das Volkslied der Woche nahebrachte. Unvergesslich bis heute das Lied "Ich armes welsches Teufli":

Ich armes welsches Teufli
bin müde vom Marschieren
bin müde vom Marschiern
Ich hab verlorn´mein Pfeifli
aus meinem Mantelsack
aus meinem Mantelsack
Ich glaub´ich hab´s gefunden
was du verloren hast
was du verloren hast

Herr Bürgesser fuhr mit einem Aufsehen erregenden uralten Fahrrad zur Schule. Ich sehe noch heute die überdimensioniert große Fahrradlampe vor mir. Fast sah sie wie ein kleiner schwarzer Kochtopf aus.



LEHRER WINTERER


Lehrer Winterer war einer der strengsten Lehrer der Schule und eine Weile unser Religionslehrer. Wir mussten die Bibel zu Hause seitenweise auswendig lernen. Wer beim Aufsagen im Unterricht stecken blieb, kassierte als Prügelstrafe sogenannte Hosenspanner.

Besonders gefährlich waren Schlechtwettertage, an denen Karl Winterer unter seinem Holzbein besonders litt. Neben der Prügelstrafe gab es noch weitere Strafen wie Motorrad putzen oder für seine Frau einkaufen gehen. Besonders eindrucksvoll war es freitags, wenn man Bücklinge kaufen und in den Unterricht bringen musste. Herr Winterer putzte sie während des Unterrichts, um sie dann durch einen Schüler quer durch die ganze Stadt zu seiner Frau nach Hause bringen zu lassen. Das dauerte hin und zurück gut drei Stunden, die dann für die weiteren Unterrichtsstunden verloren waren.

Trotz allem war Lehrer Winterer bei uns Kindern beliebt, weil wir letztlich immer mit Strafarbeiten seinem todlangweiligen Unterricht entkamen. Sein extrem kleines, lautes Motorrad beeindruckte uns, und außerhalb seines Unterrichts war er ja auch ganz nett.

Bei einer Weihnachtsfeier des VdK sollte ich ein Gedicht aufsagen, dass er selbst zu diesem Zweck geschrieben hatte.

Vor lauter Aufregung aber hatte ich das Gedicht zu Hause liegen lassen, so dass er mir nicht vorsagen konnte, falls ich stecken bleiben sollte.

Statt der erwarteten Schelte tröstete mich Lehrer Winterer damit, dass ich das auf jeden Fall so schaffen werde, weil ich ja ein mutiger und kluger Junge bin. Und das aus dem Munde dieses Tyrannen.

Jedenfalls blieb ich nicht stecken und erhielt auch viel Beifall.

Eines Tages ersetzte Lehrer Winterer sein kleines Motorrad durch einen schwarzen Borgward. Es war zugleich das erste Auto, in dem ich mitfahren durfte. Das war, als Herr Winterer meinen Vater und mich in der Stadt traf und uns nach Hause fuhr.



FRÄULEIN UMRATH


Die Erinnerung an die Grundschullehrern Frl. Umrath ruft spontan das Bild eines mit Pflanzen, Büchern und Lernmaterialien vollgestellten Klassenraums in mir wach. Danach sehe ich mich gleich in ihrem Garten wieder einmal ihr Fahrrad putzen. "Fahrrad putzen", das war eine Strafe, die Frl. Umrath aussprach, wenn man in ihrem Unterricht ungezogen war. Das Denkwürdige dieser Bestrafung waren Kakao und Kuchen, den es hinterher immer gab. Und alles war vergessen! Aber eines Tages bekam ich im Naturkundeunterricht großen Ärger mit Fräulein Umrath. Ich erzählte nämlich freuestrahlend von einer seltsamen Blume, die ich auf einem meiner Streifzüge per Fahrrad durch den Hegau entdeckt hatte. Ich konnte diese Blume, die ich wegen ihres Aussehens Schachbrettblume nannte, ganz genau beschreiben. Fräulein Umrath lachte mich aus und sagte mir, dass ich fantasiere. Als ich nicht nachgab, schlug sie vor, dass ich diese sogenannte Schachbrettblume in den Unterricht mitbringen soll. Ich aber war beleidigt und bestrafte Fräulein Umrath damit, dass sie diese seltsame Blume nicht sehen durfte.

Erst viele Jahre später erfuhr ich durch Zufall in der Tageszeitung "Der Südkurier", dass die Schachbrettblume entdeckt und wegen ihrer Seltenheit unter Natürschutz gestellt wurde.



LEHRER SCHMITZ


Lehrer Schmitz löst in mir sehr zwiespältige Gefühle aus.

Er lud mich öfters zu sich nach Hause ein, machte mit mir Spaziergänge oder ging mit mir ins Kino. Aus heutiger Sicht handelte es sich um eine zumindest latente pädophile Persönlichkeit.

Ich kann mich jedoch nicht erinnern, dass es seinerseits irgendwelche unanständigen Annäherungen gegeben hätte. Dennoch gab es Anzeigen gegen ihn. Ich aber konnte der Polizei nichts bestätigen. Auslöser dieser Anzeigen war jedoch seine rabiate Methode, Jungens für ihre Ungezogenheiten im Unterricht zu bestrafen. Er packte sie nämlich ganz einfach und hielt sie zur Abschreckung in der vierten Etage zum Fenster hinaus.

Ansonsten unterrichtete er lebendig und humorvoll.

Eine Tages gab es Lehrer Schmitz nicht mehr. Er war aus dem Schuldienst entlassen worden.

Rektor Salkosky lehrte mich Kompromissbereitschaft und Toleranz, Lehrer Bürgesser: Liebe und Engagement, Fräulein Umrath Mut und Durchhaltevermögen. Lehrer Winterer: Überwindung der Angst und Lehrer Schmitz: Vorsicht.

8
Jun
2014

Lernbilder

Am meisten habe ich wohl aus praktischen Situationen oder wie man auch sagt „vom Leben selbst“ gelernt.
Es waren vor allem Vorbilder, die mich lehrten. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, hier einige für mich wichtige Situationen und Ereignisse zu schildern. Dabei nehme ich in Kauf, dass ich mich ab und zu wiederhole.


WAS MICH ROLF LEHRTE


Zu Rolf, dem Führhund meines Vaters, hatte ich eine besondere Beziehung. Oft lag ich mit dem Schäferhund zusammen auf dem Flur, damit dieser nicht so allein war. Einmal in der Woche fuhr ich zum Schlachthof, um für den Schäferhund Fleisch zu besorgen.

Anfänglich lernte ich von Rolf allein durch das Mitgehen, wie man einen blinden Menschen führt, z.B. um einer Markise auszuweichen.
Ich bewunderte vor allem, dass Rolf stundenlang im Büro in der Ecke auf seinem Platz lag und geduldig das Ende der Bürozeit abwartete.

Zweimal am Tag hatte Rolf Ausgang. Er streifte dann durch die Gegend. Seine Lieblingsbeschäftigung war das Jagen von Katzen. Ein unvergesslich schönes Erlebnis war für mich die Begegnung Rolfs mit Herrn Sernatinger.

Ich beobachtete öfters, wie Herr Sernatinger Rolf ärgerte, ohne dass sich dieser wehren konnte. So bewarf er Rolf, wenn dieser meinen Vater führte mit kleinen Kieselsteinen. Der Führhund reagierte überhaupt nicht, so dass der blinde Mann nichts zu merken schien. Aber eines Tages kam für Rolf der Tag der Rache und ich durfte das zufällig miterleben.

Als ich nämlich den Schäferhund aus dem Haus ließ, kam Herr Sernatinger auf seinem Fahrrad des Weges. Bevor ich mich versah, saß Rolf auf dem Gepäckträger des Fahrrads, die Vorderpfoten auf Sernatingers Schultern, zog ihn, ohne zu beißen vom Fahrrad und trottete von dannen.

Wenig später erschien die Polizei und ich erzählte den beiden Beamten die Geschichte und Vorgeschichte. Rolfs Maßnahme hatte daraufhin keine weiteren Folgen.

Jedenfalls hatte sich Rolf durch diese artistische Aktion ziemlichen Respekt im Niederhof verschafft. Ich war stolz auf ihn.

Jedoch sollte ein Ereignis eintreten, das meine Aufnahmeprüfung ins Gymnasium sehr stark gefährdete. Einige Tage vor dem Prüfungstag kehrte Rolfe nicht von seinem morgendlichen Auslauf zurück. Als ich mich mit meinem Vater auf die Suche nach ihm machte, fanden wir ihn schließlich hechelnd am Straßenrand liegen. Er war wahrscheinlich von einem Motorrad angefahren worden. Uns gelang es, Rolf zuzureden, sich mühsam nach Hause zu schleppen. Der sofort gerufene Tierarzt stellte einen Lungenriss fest und erklärte, dass der Hund nicht mehr zu retten war.

Ich und meine Schwester Marie mussten zwischenzeitlich im Kinderzimmer bleiben. Der Arzt musste ein zweites Mal zur Apotheke fahren, weil die erste Spritze zu schwach war, um den Hund zu töten. Dann war alles vorbei. Als ich und Marie aus dem Kinderzimmer durften, war Rolfs Platz im Flur bereits leer. Davids Vater und sein Freund hatten ihn weggebracht und beerdigt, ohne zu verraten wo.

Da ich und Marie unaufhörlich darum bettelten, Blumen zu Rolfs Grab bringen zu dürfen, wurde schließlich beschlossen, dass wir das beim kommenden Sonntagsspaziergang tun dürfen. Das sollte für uns beide ein schreckliches Erlebnis werden, denn als wir zu Rolf Grabs am Rand eines nahe liegenden Waldes kamen, hatte ein Fuchs das Grab geöffnet und das verwesende Tier gerissen, so dass Marie und ich das Gerippe sahen.

Von Rolf habe ich vor allem gelernt, geduldig zu sein und den rechten Augenblick abzuwarten.


MILIEUSTUDIE


Ich wuchs in einem Arbeiterviertel der Suppenfabrik Maggi auf. Mein Vater durfte dort auf Lebzeiten fast umsonst wohnen. Das hatte mit seiner Abfindung zu tun, denn das Unternehmen hatte ihn aufgrund seiner Erblindung im Krieg vor die Tür gesetzt. Einen kriegsblinden Expedienten konnte sie da wirklich nicht mehr brauchen. Mein Vater schulte daraufhin in Marburg um und wurde Sozialrichter.

Das Viertel, in dem ich aufwuchs, war wie damals üblich, ein in sich abgeschlossener Gebäudekomplex, allseitig durch Straßen abgeschirmt und mit einem sehr geräumigen Innenhof und großer Rasenfläche, auf der große Kastanienbäume standen. Auf der westlichen Seite des Innenhofs stand zudem ein dreistöckiges Fachwerkhaus, in dem drei Familien aus Italien wohnten.

In diesem gleichsam multikurellen Innenhof, durch kleine Straßen mit Parkplätzen strukturiert, spielte sich natürlicherweise alles ab, weil die Bewohner sich dort häufig trafen und auch zu kleinen Schwätzchen Zeit fanden. Zudem spielten alle Kinder dort, und für Jugendliche aller Altersgruppen war es immer ein guter Treffpunkt.

Diesem ghettoähnlichen Gebäudekomplex gegenüber lag eine Großgärtnerei der Fabrik, hinter der sich wiederum ein großer Park verbarg. Dieser war von einem schmiedeeisernen hohen Gitter auf einer wehrartigen Mauer umgeben. Hohe Sträucher und Büsche versperrten den Blick auf eine große im klassischen Jugendstil gebaute Villa. Diese wurde von einem Generaldirektor der Maggi und seiner Familie aus der Schweiz nebst ihrer Bediensteten bewohnt.

Mich reizte diese verborgene, geheimnisvolle Welt. Da es den Kindern verboten war, auch nur in der Nähe dieser Villa zu spielen, dauerte es eine Weile, bis ich mich in das verbotene Gebiet wagte.
Es war Marie, die eines Tages ausgerechnet auf der Zugangsstraße zur Villa, eine Privatstraße, ihre neuen Rollschuhe ausprobieren wollte. Sie fand nämlich, dass sich diese bestens geteerte Straße in der Nähe für ihre ersten Versuche besonders gut eignete. Zudem konnten sie da andere Kinder nicht beobachten und auslachen.
Aber durch den Lärm der Rollschuhe angelockt, erschienen hinter dem Gitter bald die beiden Kinder der Schweizer Familie, Geschwister im gleichen Alter wie Marie und ich. Jean und Christiane riefen auf Schwizerzdütsch mich und Marie zu sich, um zu erfahren, woher sie eigentlich kommen.
Als wir beide erklärten, dass wir im Niederhof wohnen, sagte Jean, dass sie den nicht kennen, weil sie nur im Park spielen dürfen. Marie wollte wissen, ob sie und ich denn im Park mitspielen dürfen.
Jean und Christiane lächelten geheimnisvoll und verrieten, dass sie eine Lücke im Gitter kennen. Gesagt, getan. Wir vier spielten Ball. Auf uns fröhlich lärmende Kinder aufmerksam geworden, erschien der Pförtner und fragte erschrocken, wie es denn sein könne, dass fremde Kinder in den Park gelangten, ohne sich bei ihm anzumelden.
Aber da tauchte auch schon die Mutter von Jean und Christiane auf und rief, dass es Zeit für das Nachmittagsgetränk ist. Christiane forderte Marie und mich auf, doch mitzukommen. Ich wollte erst nicht, aber Marie hatte sofort begeistert zugestimmt. Marie und ich staunten nicht schlecht, hatten wir ja noch nie ein so großes Haus mit so großen Räumen gesehen. Jean und Christiane führten uns auf eine große Veranda, auf der ein weiß gedeckter Tisch mit Kuchen und Kakao stand. Die Mutter brachte noch zwei Gedecke, zog zwei weitere Stühle heran und bat uns, uns zu setzen.
Statt des erwarteten Donnerwetters erkundigte sie sich bei Marie und mir, wo wir zu Hause sind. Sie glaubte sogar, mich vom Sehen her zu kennen. "Ja, Du bist der Junge, der seinen Vater des öfteren führt!… …Ich habe euch nämlich schon wiederholt gesehen, als ich den Wagen aus der Garage fuhr. Einmal habe ich Deinen Vater sogar gefragt, ob ich ihn nach Hause bringen darf. Da war er nämlich ganz allein unterwegs. Aber er wollte nicht!“
Nachdem wir tüchtig Kuchen gefuttert und Kakao getrunken hatten, wollte Marie nach Hause. Wir verabschiedeten uns von der freundlichen Frau, die uns zum Tor brachte und sogar noch hinterher winkte.

Mir war nun klar, dass es außer dem Niederhof noch eine andere, freundlichere Welt gibt, und ich beschloss, mich tüchtig anzustrengen, um meine enge Welt eines Tages verlassen zu können.

In der Villa Hefti habe ich gelernt, dass man auch in einem gehobeneren Milieu ganz normal sein kann.



WENIGER WÄRE BESSER GEWESEN


Der Gestank verriet mich als ich vom Friseur kam. Natürlich rief das Tante Betty sofort auf den Plan, mir etwa Schlechtes nachweisen zu können. Mit ihrer kleinen praktischen Vernunft war ihr sofort klar, dass ich ein ganzes Fläschchen benutzt haben musste. "Woher hast du so viel Parfüm?", fragte sie scharf. "Herr Frank hat es mir geschenkt!“ log ich verdattert.

Also fragte sie unter Strafandrohung mich noch einmal. Vor dem dritten Mal kündigte sie an, dass sie im Friseursalon anrufen werde. Aber ich blieb dabei, obgleich ich das kleine Fläschchen einfach eingesteckt hatte. Also rief Tante Betty Herrn Frank an. Wütend legte sie nach dem Gespräch den Hörer auf. Herr Frank hatte meine Aussage bestätigt.

Ich war in dem Augenblick dankbar, dass mich Herr Frank in Schutz nahm. Aber das schien Betty nur noch wütender zu machen. Ich aber wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Bei Herrn Frank entschuldigen und bedanken?
Nein, lieber erst 'mal nicht. Dazu schämte ich mich zu sehr. Aber spätesten dann, wenn ich meinen Vater das nächste Mal zum Friseur begleiten muss, wird eine Stellungnahme unvermeidbar.

Schließlich gab ich dem inneren Druck nach und erzählte meinem Vater die ganze Geschichte. Dieser rief Herrn Frank an, um ihm zu sagen, dass er das Fläschchen Parfüm das nächste Mal bezahlen wird. Auf eine Strafpredigt für mich aber verzichtete er. Es wurde kein Wort mehr über die peinliche Sache verloren.
Da aber der Friseur das Parfüm nicht vermisste, wollte er auch kein Geld dafür haben. "Vermutlich war es eines der Probefläschchen!", mutmaßte er.


Beim Friseur habe ich gelernt, dass Neugier ohne Vorsicht gefährlich werden kann



VERFÜHRUNG?


Huch, Hugo, der Sohn von Tante Betty, hatte wieder einmal seinen Job gewechselt. Stolz präsentierte er seiner Mutter sein neues Auslieferungsfahrzeug, ein VW Kastenwagen, auf dem von allen Seiten groß der goldfarbene Margarinewürfel "Sanella" samt dem Werbespruch "Backen ist Liebe!" prangte.
Aber Tante Betty teilte Hugos Begeisterung überhaupt nicht und lehnte die Einladung zu einer Probefahrt energisch ab. Ihr war es wegen der Nachbarn peinlich, dass ihr Hugo schon wieder ein anderes Lieferauto fuhr. Hugo, der ein leidenschaftlicher Autofahrer war, überflutete Betty's Gehirn mit Lobpreisungen auf den neuen Job derart, dass sie schließlich ihre Bedenken aufgab und sich sogar die eindrucksvoll vorgetragenen Vorteile der feinen Pflanzenbutter anhörte.

Hugo war erfolgreich, denn zum Abendessen gab es mit Velveta Schmelzkäse bestrichene Sanella Brote. Natürlich wie immer nur eine Sorte, aber immerhin mit frischen Tomaten aus dem eigenen Garten, der zur Wohnung gehörte.
An heißen Sommertagen stand ich mit den Amseln auf, um die Pflanzen mit dem Gartenschlauch zu besprengen. Das tat ich dann auch für das Nachbarstück von Frau Fuchs.

Selbstverständlich durfte ich in den Ferien mit Hugo auch einmal eine Stadttour mitmachen. Ich staunte, mit welch flotten Sprüchen Hugo im weißen Kittel die jungen Verkäuferinnen beeindruckte. Außer Kartons schleppen und Listen abhaken musste man offensichtlich nichts können, vorausgesetzt man hatte einen Führerschein. Hugo fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, so etwas auch einmal zu machen. Aber ich sagte, dass ich keine Lust hätte, den ganzen Tag Kartons zu schleppen. Zudem schmecke mir Sanella überhaupt nicht.

Hugo sagte lachend, dass er auch keine Sanella esse und dass man sich an das Schleppen gewöhne. Aber es blieb dabei, das war kein Job für mich. Ganz anders Marie. Sie fand das toll, aber leider nichts für Mädchen.

Hugos Jobauffassung hinterließ bei Marie aber bleibende Eindrücke. So entwickelte sie die Vorstellung, dass man auch Geld verdienen kann, ohne sich lange Jahre durch die Schule quälen zu müssen.

So entschloss sie sich, nach zwei Jahren das Gymnasium abzubrechen, um eine Drogistenlehre zu beginnen. Ebenso suchte sie sich einen Partner aus, der den gleichen Job wie Hugo hatte. Das alles geschah mit starker Unterstützung von Tante Betty gegen die Argumente meines Vaters.
Hugo demonstrierte, ohne es zu ahnen, die Mächtigkeit eines Vorbilds.

Der Vorteil eines Vorbildes liegt in der Lebendigkeit der Handlungsvorlage. Das lebendige Vorbild ist jeder Beschreibung haushoch überlegen, da es weit mehr Information liefert als sprachlich erfasst werden kann. So überzeugt Hugo weniger durch seinen Job als vielmehr durch seine Persönlichkeit, beispielsweise durch die ansteckenden Begeisterung, mit der er seinen Job erledigt.

Es kann viel über Bildung bzw. Erziehung geredet werden, durchsetzen aber werden sie nur vorbildliche Menschen.

Die Kraft der Bilder ist dann auch der zureichende Grund, warum hier biografische Bilder gewählt wurden.

7
Jun
2014

Ereignisse

In mir erwachte das Verlangen, mehr von dem zu erfahren, was da vor sich ging. Immer mehr verspürte ich ein großes Unbehagen, dass ich in der Schule nicht das erfuhr, was mich wirklich interessierte. Langeweile, nur Langeweile, nichts wie Langeweile. Das war die Zeit, als mir der Italienerjunge Peter Corti vom Gymnasium erzählte und sagte, dass man dort sehr viel lernen könne.

An diesem Tag kam ich nach Hause und erzählte zum Entsetzen von Betty, dass ich aufs Gymnasium gehen wolle. Tante Betty rastete schier aus vor Zorn. Schließlich hatte sie für mich eine Lehre in der Maggi vorgesehen. Und dafür würde doch wohl der Besuch der Hauptschule vollauf genügen. Ihr wichtigstes Argument war, ich solle möglichst bald Geld verdienen.

Auch mein Vater war davon keineswegs begeistert. Aber er wollte seiner Haushälterin nicht widersprechen, hatte er selbst doch nur eine Lehre gemacht, um Speditionskaufmann zu werden. Mehr hatte ihm seine Mutter, eine vermögende Weingutbesitzerin nie zugetraut.

"Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!", und so kam ich auf die Hauptschule. Aber schon nach dem ersten Schultag sprach der Klassenlehrer mich an, um zu erfahren, warum ich in der Hauptschule angemeldet worden war.

Ich erklärte ihm, dass ich nicht aufs Gymnasium dürfe. "Aber auf dieser Schule hier bist Du völlig verkehrt! Das müssen wir schnellstens ändern!"
Nachmittags bekam mein Vater Besuch von einigen Lehrern. Am nächsten Morgen wurde ich von meinem Klassenlehrer Engesser in die Klasse der Mittelschule, die im selben Gebäude lag, gebracht.

Einen Monat später meldete sich zum Schrecken meines Vaters der Pfarrer wieder einmal zu einem Gespräch an. Pfarrer Sachs wollte ihn davon überzeugen, dass er seinen Jungen aufs Gymnasium schicken soll. Aber Pfarrer Sachs, der in der Stadt hohes Ansehen genoss, scheiterte am Widerstand Tante Bettys.

Pfarrer Sachs erzählte mir davon und versprach, nicht aufzugeben. Und so wiederholte er seine Forderung alle paar Monate. Auch das blieb ohne Erfolg. Betty Reichert verhinderte mit aller Kraft, dass ich die Chance bekam, eine bessere Schule zu besuchen als ihr Sohn Hugo. Als sie jedoch eines Tages eine Einladung vom Jugendamt in Händen hielt, kochte sie vor Wut. Sie empfand die Ladung als außerordentliche Zumutung. "Denen werd' ich's schon zeigen, wer hier das Sagen hat!“

Wenig später erklärte mir mein Vater, dass er mit mir zum Gymnasium müsse. Er hätte eine Einladung von einem Direktor Götz, und zwar ausdrücklich ohne Frau Reichert.

Eine Woche später war es dann so weit, und ich führte meinen Vater zu diesem Termin beim Leiter des Gymnasiums. Nach Anmeldung bei der Sekretärin wurden wir beide in das Dienstzimmer des Direktors geführt. Ich durfte bei dem Gespräch dabei bleiben. Der Direktor las meinem Vater einen Bericht der Grund- Haupt- und Mittelschule vor und die Bitte des Jugendamtes, diesen durch einen Aufnahmetest zu überprüfen.

Direktor Götz fragte mich, ob ich denn unbedingt auf's Gymnasium müsse. Dann erklärte er mir die Vorteile der Mittelschule. Zum Schluss fragte er mich erneut, warum ich unbedingt das Gymnasium besuchen wolle. Ich erklärte, dass ich später wie mein Onkel Julius Arzt werden will, und dazu brauche ich unbedingt das Gymnasium. Mein Onkel hat mir das in den letzten Sommerferien während einer Visite über Land gut erklärt. Der Direktor ließ sich durch meine Argumente überzeugen. Dann kam er auf ein Problem zu sprechen, denn ich könne nur in die Quinta und nicht in die Sexta eintreten. Die Quinta aber habe bereits ein Jahr Französisch, und ohne einen Französischtest sei die Aufnahmeprüfung nun einmal nicht gültig.

Dann erklärte er, dass er bereits mit dem Französischlehrer Dr. Wolf gesprochen und dieser einen Ausweg vorgeschlagen habe. "Also, Du solltest diesen Test auf jeden Fall machen.“ Ich und endlich auch mein Vater stimmten zu.

Zwei Wochen später, absolvierte ich an drei Tagen den Französisch-, Mathematik- und Deutsch-Test.

Dr. Wolf hatte mir eine Zeichnung von einer belebten Strasse vorgelegt und mich aufgefordert, von links nach rechts möglichst genau zu beschreiben, was ich sehe. So konnte ich die französische Bildbeschreibung mit der denkbar schlechtesten Note bewältigen.

6
Jun
2014

Vergleich

Denken ist einerseits eine natürliche Gabe, andererseits aber auch Selbsterziehung. Selbsterziehung aber geschieht nicht in einem Vakuum, sondern ereignet sich vor allem sozial und kulturell bedingt. Wie sich Begabung und ‚Selbstanteil‘ verteilen, ist mir nicht bekannt.

Was mich selbst auf den Weg des Denkens geführt und gehalten hat, kann ich, zumindest was die ersten Schritte angeht, auch nur vermuten. So stellt meine Schilderung nicht mehr als einen Versuch dar.

Ich bin im Arbeitermilieu aufgewachsen, genauer in der Arbeitersiedlung der Suppenfabrik Maggi in der Kleinstadt Singen am Hohentwiel, nicht gerade ein städtebauliches Schmuckstück, um nicht zu sagen ein ziemlich hässliches Industriestädtchen, in dem es zudem oft nach Suppe roch. Eine Umgebung also, für die meine berufliche Laufbahn zum Hochschullehrer nicht gerade nahe liegt.

Weil ich als kleiner Junge viel mit dem Fahrrad unterwegs war, lernte ich nach und nach auch andere Gegenden kennen. Meine Neugier ermunterte mich gegen meine Ängstlichkeit, diese auch gründlich zu erkunden. Ich habe als Kind niemals gemerkt, in welcher Gesellschaftsschicht ich mich gerade aufhielt. Gewiss, einige Leute redeten geschwollener, taten vornehm und verbargen nicht, dass sie mehr besaßen als andere. Ich erinnere mich sehr wohl an einige Situationen, in denen es mir besonders darauf ankam, mein Zuhause nicht zu blamieren. Also versuchte ich möglichst rasch, die sogenannten besseren Manieren anzunehmen und gestelzt hochdeutsch zu reden und nicht alemannisch zu schwätzen.

Etwas wohler fühlte ich mich allerdings unter Leuten, bei denen ich mich nicht so zusammennehmen musste. Aber was mir anzumerken ganz wichtig ist, dass sich Menschen für mich nicht aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit in dem, was sie zu sagen hatten, unterschiedlich klug vorkamen. Kann durchaus sein, dass sich manche an mein Niveau sehr gut anzupassen wussten.

Im Niederhof, in jenem Arbeiterviertel, in welchem ich aufwuchs, wohnten sehr viele Gastarbeiterfamilien aus Italien, sodass es entsprechend laut, heftig und fröhlich zuging.

Wir Kinder kannten keine Unterschiede. Wir gingen in diesen Familien ebenso ein und aus. Die italienischen Kinder spielten mit uns genauso. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass die Erwachsenen Vorbehalte gehabt hätten. So lernte ich sehr früh, dass es keinen Unterschied macht, welchem Volk oder Nationalität jemand angehört.

Ganz so aber war es nicht. Denn als es um Wechsel von der Grundschule auf die Haupt-, Mittelschule oder Gymnasium ging, verspürte ich plötzlich Konkurrenz.
Italienische Kinder wechselten seltener auf die Hauptschule als deutsche. Als mein Freund Pedro aufs Gymnasium ging, wollte ich das unbedingt auch. Weil für mich vorgesehen war, später in der Maggi zu arbeiten, um möglichst schnell eigenes Geld zu verdienen, sollte ich die Hauptschule besuchen.

5
Jun
2014

Ansicht

Mir ist klar, dass meine Sicht im Blick auf das Denken Ansichtssache bleibt. Wenn ich mich in der Philosophie nach dem Denken umsehe, dann erscheint mir dergleichen nach Platon kaum mehr vorhanden zu sein. Vielmehr zeigt sich mir Denken eher mit dem Anspruch auf Selbstgewissheit verbunden zu sein.

Diese Selbstgewissheit soll über den Umweg des Anderen erreicht werden. Es kommt dabei weniger darauf an, dass ich meiner selbst sicher bin, sondern vielmehr darauf, dass mir andere zustimmen.

Diese Zustimmung erreiche ich aber nicht auf Grund gemeinsamer Ansichten, sondern einzig und allein durch Einsicht, der alle zuzustimmen vermögen. Mittel zu diesem Zweck sind nicht mehr vollkommen übereinstimmende Ansichten, sondern mittels Messungen objektivierbare Beweise. Das steht selbstverständlich im krassen Gegensatz zu dem, was ich mir erarbeitet habe.

Ich frage mich also, ob sich nicht doch eine Möglichkeit der Überbrückung finden lässt. Mir ist während der Suche völlig klar, dass eine gemeinsam übereinstimmende Lösung von allen Beteiligten Verzicht verlangt.

Was mich persönlich angeht, bedeutet das den Verzicht auf die Bestimmung des Denkens als Empfangen, was vom Unbewussten aufgetragen wird.

4
Jun
2014

Aussicht

Hoffnung auf eine Entdeckung des Denkens kam durch die Feststellung eines Triebes als Antrieb einer Empfindung, welche wiederum die Vorstellungskraft (Fantasie) anregt, Empfindungen als Bilder bzw. Vorstellungen zu gestalten.

Solche Bilder blitzen kurzfristig im Bewusstsein auf, bevor sie zu Wort kommen. Zur Sprache gelangen sie durch die innere Stimme oder auch durch wortlose gefühlte Eingebungen. Auf Grund dieser Beobachtungen kristallisiert sich Denken heraus als Empfangen, was vom Unbewussten aufgetragen wird.

Dieser Empfang gelingt wahrscheinlich einzelnen je nach Empfangssituation unterschiedlich sensibel. Das Vermögen, unbewusstes Geschehen zu offenbaren, wird seit jeher „Vernunft“ genannt.

Dieses Vermögen schenkte dem Lebewesen "Mensch" den Namen “vernunftbegabtes Lebewesen“, vermutlich aufgrund vergleichbarer Beobachtungen der Menschen in den Anfängen der Geschichte Abendländischen Denkens.

Was lässt sich nun mit dieser Einsicht anfangen. Welche Aussichten gibt sie frei? Ich nehme an, dass sie uns ermöglicht, uns bewegende Fragen an das Unbewusstsein zu richten, um auf das zu lauschen, was mitgeteilt wird.

3
Jun
2014

Gefühl - (k)ein Wort

Im Gegensatz zur Religion, Philosophie, Lyrik, Poesie, Musik oder Tanz kommt Intuition nicht zu Wort. Man spricht von einem Einfall und sagt zwar, dass diese Eingebung Intuition gewesen sei, aber man verschweigt, was darunter zu verstehen ist.

Ich gebe zu, dass es mir genau so ergeht. Ich schreibe wie selbstverständlich diese Sätze auf. Ich vermag jedoch nicht zu beschreiben, wie sie eigentlich entstehen. Natürlich bin ich wie die meisten versucht, zu sagen: „Sie fallen mir einfach ein!“ Aber das erklärt genau nichts.

Das macht mich unzufrieden, und ich spüre, wie diese Unzufriedenheit mich antreibt, den Grund zu schreiben aufzuspüren. Ich vermute daher erst einmal, dass es vielleicht meine Befindlichkeit sein könnte, die das Schreiben anregt.

Im Augenblick schreibe ich ja, um das Unbehagen loszuwerden. Ich stocke, wahrscheinlich, weil tief nachts alles schleppender vorangeht als früh morgens, eine Zeit, zu der ich bevorzugt arbeite. Zudem fallen die meisten von den Texten, die ich mir nachts mühsamer erarbeite, bereits früh morgens durch.

Auch das ist typisch für die Nacht, dass ich das von mir schreibe. Ich sehe mich schon, wie ich das morgen wieder verwerfe, um dann erneut zu erfahren, dass ich dadurch alle näheren Texte der augenblicklichen Schreibumgebung überkritisch bedrohe, um sie dann letztendlich doch zu löschen.

Früher, an der Schreibmaschine, gab es viel mehr Schreibhemmungen, um zu vermeiden, dass erst Texte entstehen, die dann doch im Papierkorb landen.

Aber mir fällt ein, dass ich schon damals oft am folgenden Tag Texte zerrissen habe, die nachts entstanden waren. Und da ich vor Jahren lieber nachts als am Tag geschrieben habe, füllte sich der Papierkorb in jener Zeit ziemlich schnell.

Noch etwas war vor vielen Jahren ganz anders. Ich habe nicht freiwillig geschrieben, sondern aus Verpflichtung, weil ich mich qualifizieren wollte oder besser musste. Schließlich wollte ich mich so schnell wie irgend möglich beruflich qualifizieren, um davon möglichst gut und ungebunden leben zu können. Von klein auf hasse ich nämlich jede Form von Abhängigkeit.

Immerhin förderte nun diese Art und Weise der Rückbesinnung einen Beweggrund für mein Schreiben zutage. Ich halte fest: Es ist eine Art Selbstverpflichtung aus einem existentiellen Bedürfnis oder Selbsterhaltungstrieb heraus.

Ich vermute, das hat sich über all die Jahre nicht geändert. „G’lernt isch g’lernt!“ sagt’s Äffle zum Pferdle oder mit einem Stichwort: festgefahren! Nichts Anderes meint wohl schwäbisch ironisch dieser Spot des SR /SWR.

2
Jun
2014

Gefühltes Fühlen (Intuition)

Wer ein Gedicht oder auch einen Roman schreibt, dem wird das, was er aufschreiben soll, gleichsam von der Tiefe des Unbewussten gegeben. Diese künstlerische Gabe oder Begabung schenkt der Vorstellungskraft künstlerisch Schaffender Bilder, die sich beschreiben lassen. Bilder schenken Bedeutungen jenen Worten, welche dann poetisch oder lyrisch gesetzt werden.

Eingebungen gelangen meistens nicht unmittelbar zu Papier. Die eingegebenen Bilder werden vom Künstler oder der Künstlerin gedeutet. Der Sinn des Unbewussten erhält den Eigensinn der Schaffenden. Das Umdeuten der Eingebung durch künstlerisches Gestalten formt den Sinn eines Gedichts oder eines Romans.

Das Spielen und Inszenieren des Unbewussten mit Fantasien des empfangenden, sensibel empfindenden Bewusstwerdens gelangt nunmehr als Denken zum Vorschein. Als Spielen und Gestalten des Unbewussten formt Fantasieren jenes Gestalten, welches sich dann künstlerisch ins Werk setzen lässt.

Als Empfinden des Fühlens wird Denken nunmehr als Atmen der Seele spürbar

1
Jun
2014

Denken lässt sich fühlen

Mir scheint es, das gesuchte innere Geschehen namens Denken entzieht sich jeglicher, zumindest begrifflichen Bestimmung. So setzte ich Denken mit jenem gefühlten Fühlen gleich, welches auch Intuition genannt wird.

Mir ist dabei völlig klar, dass diese vorläufige Beschreibung jene verärgern muss, welche sich als Mathematiker oder Naturwissenschaftler betrachten. Dennoch Denken bleibt vorwiegend ein Schöpfungsprozess.

Mathematiker und Naturwissenschaftler aber denken nicht wie der Philosoph Martin Heidegger höchst provozierend bemerkt, sondern rechnen. Wissenschaften modellieren, kalkülisieren, mathematisieren und prognostizieren, aber in aller Regel verlassen sie sich - bis auf geniale Ausnahmen wie Einstein - nicht auf das Empfinden ihrer Gefühle.

Auf den Punkt gebracht:

- Religion glaubt,
- Kunst denkt,
- Wissenschaft rechnet.

Zugegeben, das kommt überfallartig. Über Kunst und Denken habe ich hier noch kein Wort verloren. Aber vielleicht hätte ich statt „Auf den Punkt gebracht“ einfach „Merkzettel“ oder „Notiz“ sagen und betonen sollen, dass es mir darum ging, festzuhalten, worauf es mir als Noch-zu-Bedenken ankommt.

Mir ist auch klar, dass Denken als Empfinden des eigenen Fühlens (Intuition) eine noch ziemlich unscharfe Angelegenheit ist.

31
Mai
2014

Gefühlschaos

Was wirbelt in mir nur all diese Empfindungen auf? Ist Denken vielleicht dieses Aufwühlen von Empfindungen, diese spontanen Ansammlungen vage angedeuteter Möglichkeiten?

Ich kann nicht einfach eine dieser Möglichkeiten ergreifen. Bei Fehlgriffen werde ich abrupt zurechtgewiesen. Fast fühlt sich solches Vergreifen irgendwie unanständig an.

Dennoch verspüre ich jetzt, wie Denken mit einem Tumult von Gefühlen beginnt. Aus diesem Getümmel wirbeln Worte auf mich zu und binden sich zu Sätzen, die sich positiv oder negativ anfühlen. Sätze, die sich gut anfühlen, werden angenommen und festgehalten.

Denken zeigt sich mir bis jetzt als ein besonders sensibles Zeugen annehmbarer Möglichkeiten. Mir fällt ein, dass ich das auch „Schaffen“ nennen könnte, da es offensichtlich um schöpferische Möglichkeiten geht.
Der Versuch, Denken zu fassen zu bekommen, ist wohl das beste Beispiel hierfür.

30
Mai
2014

Spurensuche

Was ist das, was sich da in mir so ereignet, dass ich es als Denken empfinde? Diese Frage bewirkt, dass ich nach innen schaue, meine Vorstellungen wahrnehme, betrachte, aber nicht so zu beobachten vermag, dass sich mir die Möglichkeit einer Antwort erschließt. Mir kommen Zweifel, ob ich mir diese Frage überhaupt so stellen kann.

Zu viele Philosophen habe ich zu diesem Thema gehört und gelesen, als dass ich mich noch unvorbelastet dieser Frage nach dem Denken nähern könnte. Überraschenderweise fällt mir dennoch nichts ein, was mich zufrieden stellt.

Mir schmeckt das vorgekaute Zeug nicht mehr. Ich spüre, dass das Übernehmen von Gedanken noch nichts mit Denken zu tun hat. Nachdenken ist das, was das Wort sagt, nämlich Nachmachen. "Imitation ist kein Denken!“ wehrt es sich in mir leicht entrüstet.

Ich bin überrascht. Andererseits aber auch nicht, denn einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob Denken nicht doch ganz einfach Imitation sein könnte. Schließlich lernen wir Menschen sehr viel durch Imitation!

Aber wie gesagt irgend etwas in mir wehrt sich aufgebracht dagegen. Hat dieses Eingreifen aus der Tiefe des Unbewussten vielleicht etwas mit Denken zu tun?
Und was - bitte schön - treibe ich eigentlich vor diesem Eingriff? Etwas enttäuscht bin ich jetzt schon, denn ich nahm an, zu denken. Ich wollte doch, mich beobachtend erklären, wie sich mir Denken zeigt.

Ich komme mir jetzt doch etwas blöd vor, denn wie kam ich überhaupt zu dieser Annahme, und wer oder was warnt mich jetzt vor dieser offensichtlich irrigen Annahme?

Ich nehme mir vor, das Denken aufzuspüren und stoße auf ein Getümmel von Gefühlen, ein Durcheinander, in dem ich mich zurechtfinden muss.

29
Mai
2014

Erste Gedanken

Vermutlich überfällt den Menschen der erste Gedanke in dem Augenblick, in dem er das Licht der Welt erblickt. Und er drückt diesen seinen ersten Gedanken in seinem Schrei aus. Der erste Gedanke besteht wohl im ersten Erblicken der anderen Welt. Aber das ist Spekulation. Der erste Gedanke könnte sich genau so gut schon mit der ersten Empfindung im Mutterleib gebildet haben.

Tatsache ist, dass sich niemand von uns an seinen ersten Gedanken erinnern kann. Wir bekommen auch die Entwicklung des Denkens nicht mit. Unversehens finden wir uns eines Tages denkend vor, ohne dass uns irgend jemand erklärt hätte, was da mit uns geschieht, wenn wir denken.

Irgendwann haben wir irgendwo das Wort „Denken“ aufgeschnappt, und wir entdecken eines Tages, dass genau in und mit uns geschieht, was dieses Wort meint. Wir spüren geradezu diese Bedeutung.

Wenn das Kind gesagt bekommt: "Jetzt iss endlich auf!“, dann weiß es, was verlangt wird. Wenn Kinder aber gefragt werden „Wo bist du nur wieder mit Deinen Gedanken?“, dann können sie nur ahnen, was gemeint ist.

Von den vielen Situationen her, in denen von Denken gesprochen wird, erschließen wir uns die Bedeutung dieses Wortes. Aber diese eigenständige Ermittlung führt nicht dazu. jetzt ganz spontan erklären zu können, was genau mit „Denken“ gemeint ist.

Beobachtet man also Situationen, in denen Leute sagen, dass sie denken, dann geht es gewöhnlich darum, dass sie etwas zu erklären versuchen, nach Worten suchen oder überlegen, wie etwas gemacht werden soll.

28
Mai
2014

Denken ohne Philosophie?

Philosophen beanspruchen seit jeher Denken als ihr Geschäft. Sie stellen sich vornehmlich als jene dar, welche das Denken denken. Weil sie diese Tätigkeit ausüben, bezeichnen sie sich mit dem griechischen Namen „Philosophen“. Dieser Name bedeutet „Freunde der Weisheit“. Aber diese Freunde legen letztlich nicht offen, was sie unter Weisheit verstehen, sondern scheinen gar ein Geheimnis daraus machen zu wollen.

Manche nennen sich auch „Sophisten’, die Besserwisser oder die Klugen. Aber unter Philosophen gilt „Sophist“ eigentlich als Schimpfwort. Interessant ist, warum Philosophen einen ganz natürlichen Vorgang wie das Denken für so schwierig halten, dass sie ihn seit Jahrtausenden zu erklären zu versuchen, ohne auf den Punkt zu kommen. Sie scheinen sich zu weigern, Denken mit einfachen, für jeden verständlichen Worten zu erklären.

Solche Umstandskrämerei macht dann doch neugierig, weil man selbstverständlich herausfinden möchte, was daran so schwierig sein soll, dass es nur umständlich vermittelt werden kann. Ist es nicht vielmehr so, dass ein klarer Kopf auch einfach, leicht verständlich spricht?

Diese Frage reizt zu dem Versuch, herauszufinden, ob sich Denken vielleicht nicht doch ganz einfach erklären lässt.
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Wolfgang F Schmid

Grundsätzliches (www.wolfgang-schmid.de)

 

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